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Zur Heimat und Heimatlosigkeit von Aglaja Veteranyi
Eine Hommage von René Oberholzer
Vieles ist schon über Aglaja Veteranyi geschrieben worden, manches mag zutreffen, manches nicht. Das mag auch am autobiografisch gefärbten Roman „Warum das Kind in der Polenta kocht“ (DVA, 1999) liegen, der mit viel Fantasie angereichert ist, aber auch an ihren Kürzestgeschichten, die im Band „Vom geräumten Meer, den gemieteten Socken und Frau Butter“ (DVA, 2004) veröffentlicht worden sind. Im Buch „Warum das Kind in der Polenta kocht“ stellt man sich ja immer wieder die Frage, ob die Geschichten, die Aglaja geschrieben hatte, wahr oder erfunden oder beides gleichzeitig sind. Aglaja würde zu ihren Lebzeiten geantwortet haben: „Auch die Wahrheit ist eine Fiktion.“ Da hat sie nicht ganz Unrecht gehabt, denn alles, woran man sich im Rückblick erinnert, entspricht schon nicht mehr ganz der Wahrheit und ist bereits ein Stück weit Fiktion, weil wir uns mit jeder Minute ein Stück weit verändern und von der Vergangenheit wegbewegen. Das lässt uns die Vergangenheit auch in kleinen Nuancen in einem anderen Licht erscheinen.
Wenn ich als ehemaliger Lebenspartner von Aglaja (1991-1996) der Frage nachgehe, was für sie Heimat gewesen war, dann könnte es sein, dass meine Interpretation auch ein Stück weit Fiktion ist. Nichtsdestotrotz glaube ich, von Aglaja immer wieder den Satz gehört zu haben: „Die deutsche Sprache ist meine Heimat.“ Das mag überraschen, da Aglaja in Bukarest in Rumänien geboren wurde. Da würde man vermuten, dass ihre Heimat irgendwo in Osteuropa gelegen hatte. Geografisch gesehen mag das nicht zutreffen, wohl aber emotional. So lag die Heimat ihrer partiellen Schwermut, aber auch die ihrer Gemütlichkeit und Herzlichkeit und ihrer liebenswürdigen Langsamkeit in der Fortbewegung irgendwo in Osteuropa, während ihre geografische Heimat schwer zu lokalisieren war. Das lag zum einen daran, dass Aglaja seit ihrer frühesten Kindheit in der halben Welt mit dem Zirkus unterwegs gewesen war und sich deshalb die Grenzen zwischen Heimat und Heimatlosigkeit für sie zunehmend verwischt oder überlappt hatten. Die einzige unmittelbare Heimat war über lange Zeit ihre Familie gewesen. Die Orte, an denen sie auftrat, waren auswechselbar gewesen, nicht aber die Gewohnheiten und Rituale, die sie in ihrer Jugend von ihrer Familie übernommen hatte. In ihrer Familie war das Essen für sie eine Form von Heimat gewesen. Es erstaunt deshalb nicht, dass ihr erstes Buch, mit dem sie im 1999 den Durchbruch schaffte, „Warum das Kind in der Polenta kochte“ hiess.
Doch auch die Heimat der eigenen Familie war Aglaja zu eng und manchmal auch zu widersprüchlich gewesen. Obwohl jeder von uns die Familie mehr oder weniger als Heimat anschaut oder anschauen möchte, hatte das Aglaja nicht ausgereicht, um ihre Definition von Heimat zu finden. Für sie war die Familie etwas, bei der die Distanz und die Nähe nicht immer im Lot waren. Familie war etwas Wackliges, das auf tönernen Füssen stand. Und sie sollte tragischerweise Recht bekommen. So starben Ende der 90er-Jahre wichtige Bezugspersonen innerhalb ihrer Familie, nur die Mutter blieb am Leben, diese Verluste hatten Aglaja den Boden der familiären Heimat unter den Füssen weggezogen, zumal sie für ihre Tante Rita mehr Muttergefühle empfunden hatte als für ihre eigene leibliche Mutter.
Als Aglaja in der Adoleszenz in der Schweiz ins Internat kam, merkte sie, dass sie, um sich im deutschsprachigen Raum heimisch fühlen zu können, die deutsche Sprache beherrschen musste. Nach Rumänien hätte sie mit dem Ausländerstatus in ihrem Pass nicht mehr zurückkehren können, und deshalb begann sie sich ausgiebig mit der deutschen Sprache zu beschäftigen. Diese Beschäftigung intensivierte sich noch, als sie später als Lernende in die Schauspiel-Gemeinschaft Zürich eintrat, die von Hannes Becher, ihrem Förderer und Mentor, geleitet wurde. Er brachte ihr die deutsche Grammatik und das richtige und gepflegte Sprechen bei, für das sie ihm zeit seines Lebens dankbar war. In der Schauspielerei konnte sie, wie das bei vielen Schauspielerinnen und Schauspielern der Fall ist, ihre eigene Kindheit, die sie nie richtig hatte ausleben können, nachspielen und nacherleben. Dafür brauchte sie eine taugliche Sprache, und das war die deutsche Sprache. Um die langen Theatertexte, die sie auswendig lernen musste, nicht einfach nachzusprechen, sondern sie auch bis in ihre letzten Winkel zu verstehen, machte sich Aglaja wie eine Besessene daran, Wörter und deren Bedeutungen zu erforschen. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass Aglaja später die deutsche Sprache in ihren literarischen Texten regelrecht sezierte, so dass ein Satz eine ganze Geschichte oder eine ganze Welt beinhalten konnte. Und wenn man so wie Aglaja schrieb, erstaunt es auch nicht, dass jedes Wort an seinem Platz sein musste, denn das Benutzen eines falschen oder überflüssigen Wortes hätte bedeutet, dass das Gleichgewicht der Sprache oder des Satzes ins Wanken gekommen wäre, und das hatte Aglaja um jeden Preis vermeiden wollen. Und indem sie sich der deutschen Sprache mehr annäherte als manch einer, der im deutschsprachigen Raum geboren wurde, merkte sie, dass sie für sich etwas Schönes und Wertvolles gewonnen hatte: Das Gefühl von oder für Heimat. Und mit Heimat meinte Aglaja etwas, was ihr Sicherheit gab. Ihre Eloquenz im schriftlichen wie auch im mündlichen Bereich wurde ihr trotz mancher Selbstzweifel zunehmend bewusst, sowohl privat wie auch auf der Bühne, und diese Eloquenz der Sätze reicherte sie im persönlichen Gespräch häufig mit Zitaten berühmter Männer und Frauen an, so dass ihre Gesprächspartner oft erstaunt waren, welche Entwicklung dieses kleine Mädchen, das mit ihrer Familie aus Rumänien geflohen war, zur jungen Frau durchgemacht hatte. Damit erntete sie nicht nur Anerkennung, sondern auch Respekt und vielfach sogar Bewunderung.
Obwohl für Aglaja Zürich immer mehr der Angelpunkt ihres Lebens wurde, schliesslich lebte und arbeitete sie dort später als Schauspiel-Lehrerin, gab sie ihr Hochdeutsch nie auf zu Gunsten der Schweizer Mundart. So gab es immer wieder Personen, die versuchten, Aglaja einige Wörter oder Sätze auf Schweizer Mundart zu entlocken. Aus Jux stieg Aglaja manchmal darauf ein, doch unternahm sie nie den ernsthaften Versuch, das Schweizerdeutsche, mit dem sie auf der Strasse ständig umgeben war, sich einzuverleiben. Das, was ihr Heimatgefühl ausmachte, war die deutsche Hochsprache. Da spielte es keine Rolle, dass sie in der Deutschschweiz mit ihren Dialekten lebte. Vielmehr war die Bühne und deren
© René Oberholzer