DAS URTEIL - Page 3

Bild zeigt Franz Kafka
von Franz Kafka

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mehr niedergeschlagen als dich. — Aber weil wir gerade bei dieser Sache halten, bei diesem Brief, so bitte ich dich, Georg, täusche mich nicht. Es ist eine Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also täusche mich nicht. Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?“

Georg stand verlegen auf. „Lassen wir meine Freunde sein. Tausend Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater. Weißt du, was ich glaube? Du schonst dich nicht genug. Aber das Alter verlangt seine Rechte. Du bist mir im Geschäft unentbehrlich, das weißt du ja sehr genau, aber wenn das Geschäft deine Gesundheit bedrohen sollte, sperre ich es noch morgen für immer. Das geht nicht. Wir müssen da eine andere Lebensweise für dich einführen. Aber von Grund aus. Du sitzt hier im Dunkel und im Wohnzimmer hättest du schönes Licht. Du nippst vom Frühstück, statt dich ordentlich zu stärken. Du sitzt bei geschlossenem Fenster und die Luft würde dir so gut tun. Nein, mein Vater! Ich werde den Arzt holen und seinen Vorschriften werden wir folgen. Die Zimmer werden wir wechseln, du wirst ins Vorderzimmer ziehen, ich hierher. Es wird keine Veränderung für dich sein, alles wird mit übertragen werden. Aber das alles hat Zeit, jetzt lege dich noch ein wenig ins Bett, du brauchst unbedingt Ruhe. Komm, ich werde dir beim Ausziehn helfen, du wirst sehn, ich kann es. Oder willst du gleich ins Vorderzimmer gehn, dann legst du dich vorläufig in mein Bett. Das wäre übrigens sehr vernünftig.“

Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf mit dem struppigen weißen Haar auf die Brust hatte sinken lassen.

„Georg“, sagte der Vater leise, ohne Bewegung.

Georg kniete sofort neben dem Vater nieder, er sah die Pupillen in dem müden Gesicht des Vaters übergroß in den Winkeln der Augen auf sich gerichtet.

„Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spaßmacher gewesen und hast dich auch mir gegenüber nicht zurückgehalten. Wie solltest du denn gerade dort einen Freund haben! Das kann ich gar nicht glauben.“

„Denk doch noch einmal nach, Vater,“ sagte Georg, hob den Vater vom Sessel und zog ihm, wie er nun doch recht schwach dastand, den Schlafrock aus, „jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war ja mein Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch, daß du ihn nicht besonders gern hattest. Wenigstens zweimal habe ich ihn vor dir verleugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer saß. Ich konnte ja deine Abneigung gegen ihn ganz gut verstehn, mein Freund hat seine Eigentümlichkeiten. Aber dann hast du dich doch auch wieder ganz gut mit ihm unterhalten. Ich war damals noch so stolz darauf, daß du ihm zuhörtest, nicktest und fragtest. Wenn du nachdenkst, mußt du dich erinnern. Er erzählte damals unglaubliche Geschichten von der russischen Revolution. Wie er z. B. auf einer Geschäftsreise in Kiew bei einem Tumult einen Geistlichen auf einem Balkon gesehen hatte, der sich ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief. Du hast ja selbst diese Geschichte hie und da wiedererzählt.“

Währenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder niederzusetzen und ihm die Trikothose, die er über den Leinenunterhosen trug, sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim Anblick der nicht besonders reinen Wäsche machte er sich Vorwürfe, den Vater vernachlässigt zu haben. Es wäre sicherlich auch seine Pflicht gewesen, über den Wäschewechsel seines Vaters zu wachen. Er hatte mit seiner Braut darüber, wie sie die Zukunft des Vaters einrichten wollten, noch nicht ausdrücklich gesprochen, denn sie hatten stillschweigend vorausgesetzt, daß der Vater allein in der alten Wohnung bleiben würde. Doch jetzt entschloß er sich kurz mit aller Bestimmtheit, den Vater in seinen künftigen Haushalt mitzunehmen. Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, daß die Pflege, die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu spät kommen könnte.

Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett hin merkte, daß an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spiele. Er konnte ihn nicht gleich ins Bett legen, so fest hielt er sich an dieser Uhrkette.

Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich selbst zu und zog dann die Bettdecke noch besonders weit über die Schulter. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.

„Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?“ fragte Georg und nickte ihm aufmunternd zu.

„Bin ich jetzt gut zugedeckt?“ fragte der Vater, als könne er nicht nachschauen, ob die Füße genug bedeckt seien.

„Es gefällt dir also schon im Bett“, sagte Georg und legte das Deckzeug besser um ihn.

„Bin ich gut zugedeckt?“ fragte der Vater noch einmal und schien auf die Antwort besonders aufzupassen.

„Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.“

„Nein!“ rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den Plafond. „Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich. Wohl kenne ich deinen Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast du ihn auch betrogen die ganzen Jahre lang. Warum sonst? Glaubst du, ich habe nicht um ihn geweint? Darum doch sperrst du dich in dein Bureau, niemand soll stören, der Chef ist beschäftigt — nur damit du deine falschen Briefchen nach Rußland schreiben kannst. Aber den Vater muß glücklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen. Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht, da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen!“

Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger Freund, den der Vater plötzlich so gut kannte, ergriff ihn, wie noch nie. Verloren im weiten Rußland sah er ihn. An der Türe des leeren, ausgeraubten Geschäftes sah er ihn. Zwischen den Trümmern der Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er gerade noch. Warum hatte er so weit wegfahren müssen!

„Aber schau mich an!“ rief der Vater, und Georg lief, fast zerstreut, zum Bett, um alles zu fassen, stockte aber in der Mitte des Weges.

„Weil sie die Röcke gehoben hat,“ fing der Vater zu flöten an, „weil sie die Röcke so gehoben hat, die widerliche Gans,“ und er hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, daß man auf seinem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah, „weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr ohne Störung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschändet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich nicht rühren kann. Aber kann er sich rühren oder nicht?“

Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht.

Georg stand in einem Winkel, möglichst weit vom Vater. Vor einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen, alles vollkommen genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwegen, von hinten her, von oben herab überrascht werden könne. Jetzt erinnerte er sich wieder an den längst vergessenen Entschluß und vergaß ihn, wie man einen kurzen Faden durch ein Nadelöhr zieht.

„Aber der Freund ist nun doch nicht verraten!“ rief der Vater, und sein hin- und herbewegter Zeigefinger bekräftigte es. „Ich war sein Vertreter hier am Ort.“

„Komödiant!“ konnte sich Georg zu rufen nicht enthalten, erkannte sofort den Schaden und biß, nur zu spät, — die Augen erstarrt — in seine Zunge, daß er vor Schmerz einknickte.

„Ja, freilich habe ich Komödie gespielt! Komödie! Gutes Wort! Welcher andere Trost blieb dem alten verwitweten Vater? Sag’ — und für den Augenblick der Antwort sei du noch mein lebender Sohn —, was blieb mir übrig, in meinem Hinterzimmer, verfolgt vom ungetreuen Personal, alt bis in die Knochen? Und mein Sohn ging im Jubel durch die Welt, schloß Geschäfte ab, die ich vorbereitet hatte, überpurzelte sich vor Vergnügen und ging vor seinem Vater mit dem verschlossenen Gesicht eines Ehrenmannes davon! Glaubst du, ich hätte dich nicht geliebt, ich, von dem du ausgingst?“

„Jetzt wird er sich vorbeugen,“ dachte Georg, „wenn er fiele und zerschmetterte!“ Dieses Wort durchzischte seinen Kopf.

Der Vater beugte sich vor, fiel aber nicht. Da Georg sich nicht näherte, wie er erwartet hatte, erhob er sich wieder.

„Bleib’, wo du bist, ich brauche dich nicht! Du denkst, du hast noch die Kraft, hierher zu kommen und hältst dich bloß zurück, weil du so willst. Daß du dich nicht irrst! Ich bin noch immer der viel Stärkere. Allein hätte ich vielleicht zurückweichen müssen, aber so hat mir die Mutter ihre Kraft abgegeben, mit deinem Freund habe ich mich herrlich verbunden, deine Kundschaft habe ich hier in der Tasche!“

„Sogar im Hemd hat er Taschen!“ sagte sich Georg und glaubte, er könne ihn mit dieser Bemerkung in der ganzen Welt unmöglich machen. Nur einen Augenblick dachte er das, denn immerfort vergaß er alles.

„Häng’ dich nur in deine Braut ein und komm’ mir entgegen! Ich fege sie dir von der Seite weg, du weißt nicht wie!“

Georg machte Grimassen, als glaube er das nicht. Der Vater nickte bloß, die Wahrheit dessen, was er sagte, beteuernd, in Georgs Ecke hin.

„Wie hast du mich doch heute unterhalten, als du kamst und fragtest, ob du deinem Freund von der Verlobung schreiben sollst. Er weiß doch alles, dummer Junge, er weiß doch alles! Ich schrieb ihm doch, weil du vergessen hast, mir das Schreibzeug wegzunehmen. Darum kommt er schon seit Jahren nicht, er weiß ja alles hundertmal besser als du selbst, deine Briefe zerknüllt er ungelesen in der linken Hand, während er in der Rechten meine Briefe zum Lesen sich vorhält!“

Seinen Arm schwang er vor Begeisterung über dem Kopf. „Er weiß alles tausendmal besser!“ rief er.

„Zehntausendmal!“ sagte Georg, um den Vater zu verlachen, aber noch in seinem Munde bekam das Wort einen toternsten Klang.

„Seit Jahren passe ich schon auf, daß du mit dieser Frage kämest! Glaubst du, mich kümmert etwas anderes? Glaubst du, ich lese Zeitungen? Da!“ und er warf Georg ein Zeitungsblatt, das irgendwie mit ins Bett getragen worden war, zu. Eine alte Zeitung, mit einem Georg schon ganz unbekannten Namen.

„Wie lange hast du gezögert, ehe du reif geworden bist! Die Mutter mußte sterben, sie konnte den Freudentag nicht erleben, der Freund geht zugrunde in seinem Rußland, schon vor drei Jahren war er gelb zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja, wie es mit mir steht. Dafür hast du doch Augen!“

„Du hast mir also aufgelauert!“ rief Georg.

Mitleidig sagte der Vater nebenbei: „Das wolltest du wahrscheinlich früher sagen. Jetzt paßt es ja gar nicht mehr.“

Und lauter: „Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! — Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“

Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt, den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch in den Ohren davon. Auf der Treppe, über deren Stufen er wie über eine schiefe Fläche eilte, überrumpelte er seine Bedienerin, die im Begriffe war heraufzugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen. „Jesus!“ rief sie und verdeckte mit der Schürze das Gesicht, aber er war schon davon. Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: „Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt“, und ließ sich hinfallen.

In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.

Veröffentlicht / Quelle: 
Kafka, Franz. Das Urteil. Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst, herausgegeben von Max Brod, Kurt Wolff Verlag, 1913, Leipzig.

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Interpretation von Kafkas „Das Urteil“

Franz Kafkas „Das Urteil“ (1912) ist eine vielschichtige Erzählung, die die Beziehung zwischen einem jungen Mann und seinem dominanten Vater beleuchtet und tief in die Themen Schuld, Autorität, Selbstverleugnung und Untergang eintaucht. Es gilt als eines von Kafkas zentralen Werken und ist geprägt von kafkaesken Motiven wie der inneren Zerrissenheit, der rätselhaften Machtstrukturen und dem unerklärlichen Konflikt zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Verpflichtungen.


1. Familiäre Strukturen und Konflikte

Im Zentrum der Erzählung steht die Beziehung zwischen Georg Bendemann und seinem Vater. Diese ist von einem komplexen Machtgefälle geprägt: Der Vater erscheint sowohl schwach und gebrechlich als auch überwältigend stark und autoritär. Dieser Gegensatz spiegelt Kafkas eigene ambivalente Beziehung zu seinem dominanten Vater Hermann Kafka wider, wie er sie in seinem berühmten Brief an den Vater schildert.

  • Der Vater als Autorität: Der Vater wird von Georg zunächst als altersschwach und zurückgezogen wahrgenommen, doch im Verlauf der Erzählung offenbart er sich als allmächtige Instanz. Er erhebt sich buchstäblich aus dem Bett, um Georg zu konfrontieren und ihn zu verurteilen. Diese plötzliche Machtausübung zeigt, dass der Vater trotz seines Alters und seiner scheinbaren Schwäche eine unerschütterliche Autorität innehat.
  • Georg als unterlegener Sohn: Georg versucht, sich durch seine geschäftlichen Erfolge und seine Verlobung von seinem Vater zu emanzipieren. Doch diese Versuche enden in Selbstzweifel und Scheitern. Die Beziehung wird von einer tiefen Schuld und einem unausgesprochenen, generationsübergreifenden Konflikt überschattet.

2. Schuld und Urteil

Der Titel „Das Urteil“ verweist auf die zentrale Thematik der Erzählung: die unausweichliche Verurteilung des Protagonisten. Der Vater verurteilt Georg „zum Tode des Ertrinkens“, ohne dass klar ist, worin genau Georgs Schuld besteht. Diese Schuld bleibt vage, was typisch für Kafkas Werke ist.

  • Unbestimmte Schuld: Georg scheint sich gegenüber seinem Vater, seinem Freund und seiner Braut schuldig zu fühlen, ohne dass diese Schuld explizit benannt wird. Diese diffuse Schuld verweist auf ein existenzielles Thema, das in Kafkas Werk immer wieder auftaucht: die Unfähigkeit des Individuums, den Anforderungen der Gesellschaft, der Familie oder einer höheren Macht gerecht zu werden.
  • Das Urteil als Willkür: Das Urteil des Vaters ist abrupt und unerbittlich. Es erinnert an die unverständliche Macht und Willkür, die Kafka in „Der Prozess“ beschreibt, wo Josef K. ebenfalls ohne klaren Grund verurteilt wird.

3. Freundschaft und Isolation

Die Beziehung zu dem Jugendfreund in Petersburg spielt eine zentrale Rolle, obwohl dieser Freund nur indirekt präsent ist. Georgs Briefe an den Freund und seine Entscheidung, ihm von seiner Verlobung zu erzählen, dienen als Katalysator für die Konfrontation mit dem Vater.

  • Der Freund als Spiegel: Der Freund kann als eine Projektion von Georgs verdrängten Ängsten und Sehnsüchten interpretiert werden. Seine Isolation in der Fremde spiegelt Georgs eigene innere Isolation und seine Unsicherheit im Umgang mit seiner Umwelt wider.
  • Der Freund als Ersatzsohn: Der Vater erhebt den Freund in Petersburg zu einem idealen Sohn, der Georgs Schwächen ausgleicht. Diese Umkehrung der Loyalität verstärkt Georgs Gefühl der Entfremdung und Schuld.

4. Vater-Sohn-Konflikt als zentrales Motiv

Der Konflikt zwischen Vater und Sohn ist ein wiederkehrendes Motiv in Kafkas Werk, besonders in „Das Urteil“, „Die Verwandlung“ und dem „Brief an den Vater“. In allen Fällen wird der Sohn von einer übermächtigen Vaterfigur dominiert und scheitert an seinem Versuch, sich von dieser Autorität zu lösen.

  • Parallelen zu „Die Verwandlung“: Wie Gregor Samsa in „Die Verwandlung“, der von seiner Familie ausgegrenzt und schließlich vernichtet wird, erlebt Georg Bendemann eine zunehmende Entfremdung und endet im Tod. Beide Geschichten zeigen die zerstörerische Macht familiärer Bindungen und die Unfähigkeit, aus diesen auszubrechen.
  • Das Urteil als symbolischer Vater-Sohn-Konflikt: Der Konflikt kann als universelles Drama gelesen werden, das die Spannung zwischen individueller Freiheit und familiärer oder gesellschaftlicher Pflicht thematisiert.

5. Symbolik und Interpretation

Kafkas Erzählung ist reich an Symbolen, die auf verschiedene Interpretationen hinweisen:

  • Das Wasser und der Tod: Georgs Tod durch Ertrinken symbolisiert sowohl die Reinigung von Schuld als auch die endgültige Unterwerfung unter das väterliche Urteil. Das Wasser kann als Übergang in eine andere Existenz oder als Flucht vor der unerträglichen Realität gedeutet werden.
  • Der Freund in Petersburg: Die räumliche Distanz zu dem Freund steht für die emotionale und geistige Isolation Georgs. Der Freund könnte auch als Alter Ego Georgs gesehen werden, das seine Sehnsucht nach Unabhängigkeit verkörpert.
  • Der Vater als göttliche Instanz: Der Vater wird im Verlauf der Erzählung zunehmend zu einer allmächtigen, fast göttlichen Figur, die Leben und Tod bestimmt. Diese Darstellung erinnert an die unbegreifliche Autorität, die Kafka in „Der Prozess“ und „Das Schloss“ thematisiert.

6. Fazit

„Das Urteil“ ist eine meisterhafte Darstellung von Konflikten zwischen Autorität und Freiheit, Schuld und Strafe sowie Individualität und sozialen Bindungen. Die Erzählung bleibt bewusst mehrdeutig und lädt zu zahlreichen Interpretationen ein, sei es als persönliche Aufarbeitung von Kafkas Vaterkonflikt, als existentialistisches Drama oder als symbolische Allegorie. Der plötzliche und scheinbar sinnlose Tod Georgs zeigt die kafkaeske Ohnmacht des Individuums gegenüber einer unbegreiflichen, übermächtigen Instanz, sei es die Familie, die Gesellschaft oder eine göttliche Autorität.

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