Der König in Thule

Bild zeigt Johann Wolfgang von Goethe
von Johann Wolfgang von Goethe

Es war einst ein König in Thule,
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
einen goldnen Becher gab.

Es ging ihm nichts darüber,
Er leert' ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
So oft trank er daraus.

Und als er kam zu sterben,
Zählt' er seine Städt' im Reich,
Gönnt' alles seinen Erben,
Den Becher nicht zugleich.

Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale
Dort auf dem Schloß am Meer.

Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut
Und warf den heil'gen Becher
Hinunter in die Flut.

Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer.
Die Augen täten ihm sinken,
Trank nie einen Tropfen mehr.

Veröffentlicht / Quelle: 
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 118-119.

Einleitung

Johann Wolfgang von Goethes Ballade Der König in Thule ist ein paradigmatisches Beispiel für die literarische Strömung der Empfindsamkeit und zeichnet sich durch ihre klare Form sowie die dichte Verknüpfung von Inhalt und Struktur aus. Die Geschichte eines treuen Königs, der die Bedeutung des Überlieferten über den materiellen Besitz stellt, spiegelt zentrale Themen wie Vergänglichkeit, Treue und Abschied wider. Diese Analyse wird das Gedicht auf inhaltlicher, formaler und sprachlicher Ebene untersuchen, um die zentrale Botschaft und Goethes kunstvolle Gestaltung herauszuarbeiten.

Inhaltliche Analyse

Das Gedicht erzählt die Geschichte eines treuen Königs, dessen Liebe zu seiner verstorbenen Geliebten in einem goldenen Becher symbolisiert wird. Dieser Becher wird zum Gegenstand seiner tiefsten Gefühle und bleibt ihm ein heiliger Gegenstand bis zu seinem Tod. Die Handlung gipfelt darin, dass der König den Becher ins Meer wirft, als Zeichen des Loslassens und zugleich als Akt des Abschieds. Die Schlussszene, in der der König stirbt, schließt den Kreis und unterstreicht die zentrale Botschaft von Treue und Vergänglichkeit.

Strophenweise Zusammenfassung

  1. Erste Strophe: Einleitung in die Lebensgeschichte des treuen Königs und die Bedeutung des Bechers.

  2. Zweite Strophe: Betonung der emotionalen Bindung des Königs an den Becher.

  3. Dritte Strophe: Vorbereitung auf den Tod des Königs; sein Vermächtnis wird beschrieben.

  4. Vierte Strophe: Die letzte Mahlzeit des Königs inmitten seiner Ritter.

  5. Fünfte Strophe: Symbolischer Abschied durch das Werfen des Bechers ins Meer.

  6. Sechste Strophe: Der Tod des Königs und die metaphorische Verbindung zwischen Becher und Lebensende.

Formale Analyse

Struktur und Aufbau

Das Gedicht besteht aus sechs Strophen mit jeweils vier Versen. Das strenge metrische und formale Schema unterstreicht die Ernsthaftigkeit und Feierlichkeit des Themas. Die Balladenform betont den narrativen Charakter des Gedichts.

Reimschema

Das Reimschema ist durchgängig ein umarmender Reim (ABAB). Diese Struktur verleiht dem Gedicht eine harmonische, in sich geschlossene Wirkung, die den Inhalt passend rahmt.

Metrum und Versmaß

Das Gedicht ist durchgehend im trochäischen Vierheber verfasst, wobei jede zweite Silbe betont ist (XxXxXxX). Dieses gleichmäßige, ruhige Metrum spiegelt die Feierlichkeit und den melancholischen Grundton des Gedichts wider. Gelegentliche Abweichungen im Versfluss dienen dazu, wichtige Wendepunkte oder Emotionen zu betonen.

Beispiel: „Es war nig in Thule“

Kadenzen

Die Verse enden im Wechsel mit männlichen und weiblichen Kadenzen, was zur musikalischen Wirkung beiträgt und die Lesedynamik auflockert.

Sprachliche Mittel

Goethe verwendet zahlreiche sprachliche Mittel, um die Thematik und die Stimmung zu verstärken:

  1. Symbolik: Der goldene Becher steht als Symbol für Treue, Liebe und die Unvergänglichkeit emotionaler Bindungen.

  2. Personifikation: „Die Augen gingen ihm über“ verleiht dem König eine tiefgefühlte, menschliche Dimension.

  3. Alliteration: „Lebensglut“ und „letzte Lebensglut“ verstärken die Dramatik.

  4. Anaphern: Wiederholungen betonen zentrale Aspekte, z. B. der Becher als durchgehendes Motiv.

  5. Bildhafte Sprache: Die Schilderung des Bechers, der ins Meer sinkt, evoziert starke visuelle Bilder und symbolisiert den Übergang ins Jenseits.

Interpretation

Goethes Gedicht greift zentrale Themen der menschlichen Existenz auf: die Vergänglichkeit des Lebens, die Treue zu geliebten Menschen und die Unausweichlichkeit des Todes. Der König erscheint als tragische Figur, die an ihrer Vergangenheit festhält, während der Akt des Becher-Werfens ein finaler Schritt der Loslösung ist. Gleichzeitig zeigt die Ballade, wie materielle Objekte emotionale Bedeutungen annehmen können.

Die klare Form und die kunstvolle Verwendung sprachlicher Mittel unterstreichen die Ernsthaftigkeit und Tiefe des Gedichts. Der trochäische Rhythmus und das harmonische Reimschema schaffen eine stimmige Atmosphäre, die den Leser in die melancholische Welt des Königs eintauchen lässt.

Schluss

Der König in Thule ist ein beeindruckendes Beispiel für Goethes Meisterschaft in der Balladendichtung. Die Verbindung von Form, Inhalt und Stil schafft ein Werk, das zeitlos bleibt und universelle Themen wie Treue, Verlust und Abschied anspricht. Durch die kunstvolle Gestaltung und die emotionale Tiefe wird das Gedicht zu einem eindrucksvollen Zeugnis der deutschen Literatur.

Gedichtform: