Morgenspaziergang. Bestürzt blebe ich vor ihrem Haus stehen. Was liegt denn da auf dem Trottoir. Drei Brillchen ohne Gläser neben einäugigem Puppenkopf auf stofflosem Bügelbrett, dreibeiniger mahagonifarbener glänzend polierter Nachttisch, Türen rausgerissen, gelb gefleckter Matratzenschoner, darauf fünf henkellose Sammeltässchen, die wertvolle Kristallschale jetzt mit Sprung, ein Stoffhase einohrig einäugig, die geliebte Kuckucksuhr, drei Bratpfannen, vier Bücher Readers Digest mit Goldfassung von 1966, sechs Stühle aus den Dreißigern mit verblichenem Bezug, ein Uraltherd - lieblos hingeworfen vor dem Sechsfamilienhaus, in dem sie ein halbes Jahrhundert lang gewohnt hat. Im dritten Stock links. Zwei Zimmer, Küche, Bad und Minibalkon mit roten Hängegeranien. Ledige Postangestellte mit kleiner Pension. Eine schmale Frau mit spärlichen weißen Locken und einem unglaublich charmanten Lächeln. Sie nannte mich Möchtegerntochter. Jetzt hat sie es endlich geschafft. Meine Fastfreundin. Auch ohne Alterheim. Wie sie es gewollt hat. Meine liebe Marga, die ich jeden Mittwochnachmittag auf ein Tässchen Tee besucht habe. Den Kuchen habe ich mitgebracht, für jede von uns ein Stück Bauernstreusel. Vor zwei Wochen haben wir ihren 98. Geburtstag gefeiert. So endet die Würde eines Menschenlebens. Mit etwas Abfall am Straßenrand. Jetzt kommt der Sperrmüll. Bald werde auch ich sie vergessen haben. Traurig will ich weiter gehen, da sehe ich sie. Die kleine Porzellangruppe von Gänschen, aneinandergereiht. Marga hat sie geliebt, sie standen im Bücherbord. Die hat der Erbneffe, wie sie ihn immer genannt hat, bei der Aussortierung wohl übersehen. Ein Griff und sie sind in meiner Manteltaschen verschwunden. Jetzt stehen sie ein wenig fremd in meinem Bücherregal und behaupten ihren Platz neben den Familienfotos.
So denke ich täglich an dich, liebe Marga. Unvergessen bist du, so lange ich lebe.
(Verfasst und eingestellt am 4. Juli 2017)
Unvergessen
von Marie Mehrfeld
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Interne Verweise
- Autorin/Autor: Marie Mehrfeld
- Gedichte von Marie Mehrfeld
- Gedichtform und Thema: Prosagedichte, Menschen
Kommentare
Ja, Erinnerungen sind kleine Sterne,
die uns trösten und das Dunkle unserer
Trauer erhellen.
RIP Marga, das war sicher eine schöne
Zeit mit Marie !
Liebe, traurige Grüße,
Volker
Danke, Volker. Meine Zeit mit Marga liegt schon eine Weile zurück, taucht aber immer wieder auf, wenn ich an den Entchen vorbeigehe. So ist das eben mit dem - endlichen - Leben. Was mir bleibt, ist eine gute Erinnerung. Das ist viel.
Liebe Grüße -
Marie
Liebe Marie, schön, dass du Marga eine so gute Freundin warst und sie besucht hast. Das hat ihr Leben ganz gewiss glücklicher und schöner gemacht. Die Gänschen sind übrigens wunderhübsch. Das ist mal wieder ein außergewöhnlich guter Beitrag von dir, den ich genossen habe und gleich noch einmal lesen werde.
Liebe Grüße,
Annelie
Liebe Annelie, danke für deinen freundlichen Kommentar, mehr nicht, weil es schon spät ist.
Liebe Grüße, Marie
Deine Erinnerung an eine liebenswerte alte Dame, hält sie auf eine besondere Art lebendig. Nicht jeder Mensch hat dieses Glück. Zudem sie 98 Jahre in Freiheit unsere Erde bewohnen durfte. Welche Chance! Liebe Marie, Dir wünsche ich noch viele gute Gedanken an diese Frau. Vor allem an jene Momente, wo ihr zusammen gelacht habt.
LG Monika
Mehr als vier Monate später finde ich deine Zeilen, liebe Monika, und danke dir mit Verspätung herzlich dafür.
LG - Marie