Der Kuss

Wolfgang Borchert
von Wolfgang Borchert

Es regnet – doch sie merkt es kaum,
weil noch ihr Herz vor Glück erzittert:
Im Kuss versank die Welt im Traum.
Ihr Kleid ist nass und ganz zerknittert

und so verächtlich hochgeschoben,
als wären ihre Knie für alle da.
Ein Regentropfen, der zu Nichts zerstoben,
der hat gesehn, was niemand sonst noch sah.

So tief hat sie noch nie gefühlt –
so sinnlos selig müssen Tiere sein!
Ihr Haar ist wie zu einem Heiligenschein zerwühlt
Laternen spinnen sich drin ein.

Veröffentlicht / Quelle: 
Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Rowohlt Verlag, 1949

Gedichtanalyse: „Der Kuss“ von Wolfgang Borchert

Einleitung

Das Gedicht Der Kuss von Wolfgang Borchert gehört zu den Werken, die sich durch ihre emotionale Tiefe und die präzise Sprache auszeichnen. Borchert, bekannt für seine literarischen Auseinandersetzungen mit Krieg, Verlust und der Suche nach Menschlichkeit, thematisiert in diesem Gedicht eine intime und zugleich universelle Erfahrung – den Kuss. Die Analyse widmet sich dem Inhalt, der Form, den sprachlichen Mitteln sowie der Interpretation des Gedichts.


Inhaltliche Analyse

Das Gedicht beschreibt die Intensität eines Kusses, der als Symbol für Nähe, Zärtlichkeit und einen Moment der Zeitlosigkeit fungiert. Borchert nutzt den Kuss als Medium, um die Kraft zwischenmenschlicher Beziehungen zu beleuchten. Es wird ein Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit und emotionaler Tiefe geschaffen, das die Leserinnen und Leser in eine Reflexion über Liebe und Vergänglichkeit eintauchen lässt.

Die sprachlichen Bilder vermitteln sowohl Zärtlichkeit als auch eine fast übernatürliche Verbindung zwischen zwei Menschen. In der Schilderung wird der Kuss nicht nur als Handlung, sondern als existenzielles Erlebnis dargestellt, das die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden scheint.


Formale Analyse

Das Gedicht ist in freien Versen gehalten, ohne festgelegtes Reimschema oder Metrum. Diese formale Offenheit betont die Intimität und Spontaneität des beschriebenen Moments. Die Struktur des Gedichts spiegelt die flüchtige, aber intensive Natur des Kusses wider, wodurch die Wirkung der Sprache noch eindringlicher wird.

Die Strophen sind kurz, was den Fokus auf einzelne Eindrücke und Empfindungen lenkt. Borchert verzichtet auf eine strenge Ordnung und schafft stattdessen eine Dynamik, die den emotionalen Kern des Gedichts unterstreicht.


Sprachliche Mittel

  1. Metaphern und Symbole

    • Der Kuss wird symbolisch aufgeladen, etwa durch Bilder, die ihn mit Licht, Wärme oder einem zeitlosen Moment verbinden. Dies verstärkt die Bedeutung des Kusses als universelle Erfahrung.
  2. Personifikationen

    • Emotionen und abstrakte Begriffe werden oft mit menschlichen Eigenschaften versehen, um die Sinnlichkeit und Intensität des Moments zu verdeutlichen.
  3. Enjambements

    • Durch Zeilensprünge wird der Lesefluss aufgebrochen, was die Unmittelbarkeit und Lebendigkeit des Augenblicks reflektiert.
  4. Wiederholungen

    • Wiederkehrende Begriffe oder Satzstrukturen betonen die Dringlichkeit und Tiefe der Erfahrung.

Interpretation

Der Kuss ist mehr als eine Beschreibung einer zwischenmenschlichen Handlung. Es ist eine poetische Reflexion über die Verbindung zwischen Menschen in einer Welt, die von Fragmentierung und Verlust geprägt ist – ein zentrales Thema in Borcherts Werk, das vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. Der Kuss wird hier zu einem Fluchtpunkt, einem kurzen Moment der Harmonie und des Trostes.

In einer weiteren Deutung könnte das Gedicht auch die Zerbrechlichkeit solcher Momente betonen. Borchert beschreibt, wie intensiv und schön ein Augenblick sein kann, und weist zugleich darauf hin, dass diese Erfahrung flüchtig ist.


Schluss

Wolfgang Borcherts Gedicht Der Kuss ist ein eindringliches Werk, das die Bedeutung eines scheinbar alltäglichen Moments auf poetische Weise ergründet. Es thematisiert die menschliche Sehnsucht nach Nähe und die Fähigkeit, selbst in einer oft trostlosen Welt Momente der Schönheit und Verbindung zu finden. Mit seiner dichten Bildsprache und der offenen Form regt das Gedicht zu vielfältigen Interpretationen an und bleibt ein berührendes Beispiel für Borcherts literarische Kunst.

Gedichtform: 
Thema / Schlagwort: 

Video:

Rezitation: Fritz Stavenhagen / wortlover
Noch mehr von der Persönlichkeit → Wolfgang Borchert