Das Morgenlicht ist schon erwacht
Der Hirsch erhebt sein stolzes Haupt
Die Erde ist noch taubenetzt
Schon geht des neuen Tages Lauf
Sein Ruf hallt weit hinaus ins Land
Er rüstet sich für diesen Tag
in Freiheit, Kraft und aller Würde
Allein zu sein, das macht auch stark
Er läuft die wohlbekannten Pfade
Er steigt hinauf und stiebt hinab
Kaum einer hindert seine Wege
Zum Wasser zieht es ihn mit Macht
Er kommt zum Lauf des kleinen Flusses
Und trinkt das herrlich kühle Nass
So kann das Leben weiter fließen
Braucht keine Sorgen, keinen Hass
Noch and’re sind im nahen Wald
Auf Wiesen und in lichten Höh’n
Es hält sie stark ein inn'res Band
So kann das Leben weitergeh’n
Es ist für ihn kein Platz bereitet
Er muss ihn finden und dort s e i n
Muss ihn behaupten, Partner suchen
Lautstark bekunden: 'HIER IST MEIN'!
So stattlich sein hat seinen Preis
Er trägt sehr schwer, frisst und kämpft
Verliert bisweilen, blutet auch
Und lebt auch mal etwas gedämpft
Der Abend senkt sich in die Fluren
Zum Wald hat 'er' sich aufgemacht
Geschützt und still kaut er das wieder
Was dieser Tag ihm dargebracht
2016 - Die Hirsche sind - bis auf die Brunftzeit im Herbst - Einzelgänger, während die Hirschkühe im Verband mit den Jungen leben. Ihr mächtiges und schweres Geweih, das ihre ganze Erscheinung bestimmt, wird jedes Frühjahr abgeworfen und muss erst wieder nachwachsen. Da muss der Hirsch bis zu 20 kg am Tag an Gräsern, Rinde, Pilzen und Beeren zu sich nehmen. Die Wissenschaft rätselt bis heute über diesen riesigen Aufwand. Der jährliche Neuaufbau könnte so etwas wie ein internes Regulativ sein: die gewaltige Kraft, Präsenz und Potenz ruft vielleicht nach einem starken Gegengewicht. Oder man entledigt sich wenigstens für ein paar Monate mal dieser Last, die ungefähr einem mit Wasser gefüllten Eimer entspricht, den wir ständig auf dem Kopf trügen.
Ein 'kapitaler' Hirsch sammelt gerne ein ganzes Rudel von weiblichen Tieren um sich, das er aber gegen Rivalen verteidigen muss. Mit einem 'ausschweifenden Leben' in unserem Sinne hat das wenig zu tun, auch nicht mit Macht und Herrschaft über das andere Geschlecht. Es ist in der Natur nie ein Problem, wenn die (männliche) Lebenskraft vielfach weitergegeben wird - selbst in der Menschheitsgeschichte ging die Weitergabe des Lebens und das Fortbestehen fast immer über persönliche Rücksichtnahmen und Bindungen. Wir mögen in unserer Zeit Bibliotheken füllen mit Beziehungsdramen - in Wirklichkeit folgen wir übergeordneten Kräften, die wir nur selten wirklich beherrschen und führen können - geschweige denn erfassen.
Ein Video/Audio gibt es dazu unter https://liederoase.de/startseite/lieder-in-worten/tiere-an-land/ "Psalm"