Es war der erste Heilig Abend ohne Mutti.
Ich war nachmittags zu Vati gefahren, um mit
ihm Kaffee zu trinken, Kuchen zu essen und
zu schweigen.
Um neunzehn Uhr machte ich mich auf meinen Heimweg.
In der U-Bahn-Station am Hauptbahnhof musste ich umsteigen.
Die Infotafel zeigte an, dass die Bahn ausfiel und
die nächste Bahn in zweiundvierzig Minuten kommen sollte.
Ich stand alleine, zwei Etagen unter der Erde,
in der U-Bahn-Station am Hauptbahnhof.
Mir wurde bewusst, dass es auf der ganzen Welt Familien gab,
deren Weihnachtsfest viel trostloser war, als zweiundvierzig
Minuten in der U-Bahn-Station zu stehen.
Sofort kamen mir Bilder dazu in den Kopf:
Im Wohnzimmer stand der geschmückte Weihnachtsbaum.
Die Kinder spielten mit ihren Geschenken in ihren Zimmern.
Mutter bereitete die üppige Abendmahlzeit vor und
der alkoholkranke Vater gönnte sich eine dicke Zigarre.
Morgen wollten sie nach St. Tropez fahren. Die Kinder sollten
bis nach Neujahr bei den Großeltern bleiben.
Die Bahn sollte in achtundzwanzig Minuten kommen.
In der Altbauwohnung stand ein Tannengesteck
auf dem kleinen Tisch.
Der Junge bekam ein gebrauchtes Feuerwehrauto,
das Mädchen eine kleine Puppe und
die Zwillinge jedes eine Rassel.
Die depressive Mutter wärmte die Reste vom Vortag auf und
der Vater trank Bier.
Das Amt gab keinen Cent dazu.
Die Bahn sollte in fünfzehn Minuten kommen.
Im zerbombten Haus stand ein armseliger Tannenbaum in der Ecke.
Das traumatisierte Mädchen bekam eine Tafel Schokolade.
Die Mutter kochte das erste Stück Fleisch seit Tagen und
der Vater gönnte sich eine zusätzliche Zigarette.
Hoffentlich hält der Waffenstillstand.
Die Bahn kam.
Ich hatte Glück, meine zweiundvierzig Minuten alleine in der U-Bahn-Station waren zu Ende.