Bohème heute

Bild von Bernd
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„Herr Stielauge ist tot.“
Ohne auf zu gucken fragte der Mann am Tisch: „Wie? Tot?“
Er sah arabisch aus und hatte eine starken Akzent.
„Mausetot.“
„Wer war es? Du?“
„Ja, ich konnte nicht anders. Ich konnte ihn nicht mehr sehen.“
„Musstest du ihn kaputt machen? Ging es nicht auch anders; nur verschwinden lassen?“
„Nein.“ sagte die kleine Frau neben ihm etwas zu laut. „Der Gedanke, ihn kaputt zu machen beschäftigt mich schon lange. Ich mochte ihn eigentlich nie so recht. Da passte was nicht. Ich kann dir nicht sagen was genau. Egal, jetzt ist er weg.“
Der Araber leckte seinen Kaffeelöffel ab und sprach mürrisch weiter: „Du machst Sachen. Wie haste ihn Mausetot gemacht?“
„Mit dem Presslufthammer drauf los. Erst die Arme, dann den Kopf, dann den Rumpf.“
„Oh man, wochenlang harte Arbeit und dann, mal eben.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Haste 'n Foto von ihm gemacht?“
„Ja. Eins. Ich fühle mich befreit. Habe wieder mehr Platz.“
„War ja auch nicht so dein Stil, deine Art. Naja, jetzt ist er weg.“
Nach einer Pause, in der die Frau den Inhalt von zwei Milchdöschen in ihren heißen Kaffee schüttete, sagte sie: „Du haust ja auch 'ne Menge weg. Nur bei dir ist es einfacher. Das macht nicht so viel Dreck.“
„Stimmt.“ Der Araber rührte wieder in seinem Kaffee herum. „Aber zurzeit haue ich gar nichts weg. Mir fällt noch nicht einmal etwas ein, das ich weg hauen könnte. Totale Ruhe im Gehirn. Ich glaube, das ist doch nichts für mich. Ständig neue Ideen haben, Motive finden und dann alles wieder übermalen, oder gleich wegschmeißen. Vielleicht ist es ganz gut, dass mir nichts einfällt, dann arbeite ich nicht für den Mülleimer.“
Die Kleine biss in ihr Hörnchen und sprach mit vollem Mund: „Nun sei nicht so down.“ Sie schluckte den Bissen herunter. „Du hast schon so tolle Bilder gemalt, dir kommen schon noch neue gute Ideen. So eine Blocke hat jeder Mal. Omnia tempus, alles hat seine Zeit.“
„Mal, ich immer.“
„Quatsch“, sagte sie, wieder mit vollem Mund.
„Feli! Machst du mir bitte einen Kaffee.“
„Gerne Wael.“
„Was ist denn mit dir passiert? Du siehst aus wie aus der Gosse gezogen.“
„Danke, Feli. So schlimm ist es nicht. Aber wenn ich keine Ideen mehr habe, wird es wohl so enden.“
„Glaube ich nicht. Deine Werke sind doch gut. Ich gucke sie gerne an und wenn ich genug Geld hätte, würde ich auch welche kaufen. Und viele andere auch.“
„Danke für das Lob. Aber ihr paar seid einige paar zu wenige. Einige mehr müssten die Bilder sehen und kaufen. Dann würde ich vielleicht etwas daran verdienen.“ Wael saß zusammen gesunken und mit hängenden Kopf am kleinen Tisch. Gelangweilt rührte er in seiner Kaffeetasse. „Wenn mir nichts einfällt, dann kann keiner neue Werke sehen. Und ihr auch nicht.“ Seine Stimme war leise. Sein Bart war schon älter als drei Tage und sein helles Hemd hatte die letzte Wäsche ausgelassen.
„Was für ein Motiv brauchst du denn? Ein bestimmtes Stillleben?“ fragte die Frau.
Die Antwort kam langsam: „Weiß ja selber nicht.“
„Das wird wieder. Ihr habt doch alle Mal einen Durchhänger. Bisher gingen die immer wieder vorbei. Mal früher, mal später“, sagte Feli, die Bedienung, mit heiterer Stimme. Während sie gestikulierend Mal nach rechts und Mal nach links zeigte, zählte sie auf welche Künstler in den letzten Wochen auch eine Blockade hatten und nun wieder fleißig am Arbeiten waren.
„Bis auf die Künstler, die weg sind, weil ihre Blockade zu lange anhielt, bis zur Pleite“, ergänzte der Araber missmutig.
„Ach. Die Jennifer, die hat fast wochenlang nichts geschrieben. Da ging sie Jobben. Bei Beate in der kleinen Buchhandlung, als Aushilfe. Und jetzt sitzt sie wieder jede Nacht in ihrer Dachkammer und erfindet Fantasy Geschichten“, berichtete Feli.
„Die hat Geld verdient als sie nicht schrieb. Ich arbeite nicht und verdiene kein Geld. Irgendwann sind meine Ersparnisse weg. Dann ist Ende mit Künstler sein.“
„Dir fällt schon noch rechtzeitig etwas ein. Ich muss wieder in die Halle. Der ganze Dreck von Stielauge liegen noch herum. Der muss in den Container. Bis dann mal.“
Wael nickte ihr nur zu.
„Bis dann Lucia. Und hebe dir keinen Bruch.“
Zu Wael gewandt sagte die Bedienung: „Ich verstehe die nicht. Wiegt selber weit unter fünfzig Kilo und macht mit Skulpturen 'rum, die einige hundert Kilo wiegen. Wenn ich so zerbrechlich wäre wie Lucia, würde ich höchstens aus Papier Figuren basteln.“
„Ja, du bist nicht Lucia. Die tickt anders.“ Der Araber bezahlte bei ihr und erhob sich schwerfällig. Langsam schleppte er sich aus dem Café.

Ich saß am Nebentisch und musste das Gespräch unbeabsichtigt mithören. Die kleine Mokkatasse hielt ich mit beiden Händen und nippte am heißen Getränkt. Meine Stirn legte sich in Falten und mein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. Das kenne ich, sagte ich fast hörbar zu mir. Wenn ich über mehrere Tage kein vernünftiges Wort zu Papier brachte, dann spielte meine Psyche verrückt. Da ging es mir anscheinend wie allen Künstlern: Ideen finden und finanziell überleben; das war die größte Herausforderung.
Während mir noch meine letzten Schreibblockaden und depressiven Episoden durch den Kopf gingen, betrachteten meine Augen schon das Café in dem ich saß: abgenutzte Kaffeehausstühle mit blanken Sitzflächen, kleine runde Marmortische die viele Macken hatten und ein großer, an den Ecken blinder Spiegel hinter der Theke. An den Wänden hangen Bilder mit Alpenpanorama oder Bergdörfern. In manchen Ecken und Nischen standen Mitbringsel aus Österreich. Die Holzvertäfelung mit Schnitzarbeiten machte den Raum zu einem gemütlichen Österreichisches Kaffeehaus im Kleinen. Die Spezialität des Hauses waren die österreichischen Mokka-Getränke die stilecht mit einem Glas Wasser serviert wurden. Auf der Theke lagen unter einer Glaskuppel Hupferl und in der kleinen Speisekarte standen typisch Österreichische Appetithappen. Im Hintergrund spielten manchmal leise Blasmusik, österreichische Volksmusik oder Schlager.
Die Bedienung war nett anzusehen und unterhaltsam. Vielleicht Mitte zwanzig. Das sehr kurze schwarze Haar und ihr kecker Gesichtsausdruck passten zu diesem Wirbelwind. Still stehen konnte sie nie.
Die Preise waren günstig.

Mit den Worten: „Willst du noch einen Mokka?“, riss sie mich aus meinen Gedanke.
„Ja bitte.“
„Gerne.“
Während sie den Mokka zubereitete, fragte sie über die Theke hinweg, ob ich in der Nähe wohne, denn ich war in den letzten Tagen auch schon im Café.
„Ich wohne seit zwei Wochen in der Holzgasse. Ich war schön öfters hier, habe immer draußen gesessen. Das Café-Mokka gefällt mir.“
„Bist du auch Künstler? Hier kommen viele Künstler her.“
„Ja, ich will vom Schreiben leben.“ Dabei presste ich meine Lippen aufeinander und versuchte ein Lächeln anzudeuten.
„Da bist du hier richtig. Schriftsteller haben wir hier auch. Die Jennifer, die kommt jeden Tag hierher um zu frühstücken. Ansonsten schreibt sie Fantasy-Romane. Was schreibst du denn?“
„Ich schreibe auch Romane. Wirtschaftskrimis.“
„Also die Jennifer schreibt nur Fantasy. Dann wohnt noch der Jörg hier, der schreibt Gedichte. Wirklich lange Gedichte in denen er eine Geschichte erzählt. Ich glaube nicht, dass er viel davon verkauft. Ich lese lieber die Romane von Jennifer.“
„Vielleicht liest du meine Texte auch Mal. Ich werde auf jeden Fall spannend schreiben.“
„Darauf freue ich mich. Übrigens, ich bin die Feli. Ich bediene hier fast jeden Tag von zehn bis sechzehn Uhr. Um vier kommt die Julia, der gehört das Café. Die bleibt dann bis zum Schluss.“
„Ich bin der“, ich schluckte, „der Alexander.“
„Schön, dass du hier bist.“
Feli brachte mir den heißen Mokka und deutete an, dass sie sich um die anderen Gäste kümmern musste.

Ich trank langsam meinen süßen Mokka aus, packte meine Sachen zusammen und bezahlte. Vor der Tür blieb ich stehen und genoss eine Prise der frischen Frühlingsluft.
Im Schaufenster neben dem Café spiegelte sich ein fast einen Meter achtzig langer Mann mit einem kleine Bauchansatz. Ich fand ich sah trotzdem schlank aus. Die rasierte Glatze ließ meine hohe Stirn hervortreten. Meine Ohren waren auffällig groß. Meine Nase war unauffällig. Mein ovales Gesicht hatte tiefe Lach- und auch Sorgenfalten. Meine wachen Augen hatten ein strahlendes Blau und mein Mund hatte etwas Verschmitztes. Das sagten zumindest meine Partnerinnen. An meinem Schnauzbart zwirbelte ich gerne kleine Antennen. Meine Garderobe war farblich aufeinander abgestimmt und auch bei Regenwetter trug ich eine weiße Hose. Mit einem Einstecktuch und einer Perlenbrosche unterstrich ich meine extravagantes Auftreten. Modische Armbänder und ein Hut gaben mir das Gefühl, ein Künstler zu sein. Insgesamt war ich ein wenig hektisch. Ich war neunundvierzig Jahre alt.

Von der Holzgasse Ecke Birkenallee, wo das Café lag, waren es nur ein paar hundert Meter zu meiner neuen Wohnung. Der Regenschauer war vorüber und ich entschied mich für einen Umweg über die Durchgangsstraße Am Sägewerk.
Wieder in der Holzgasse wechselte ich nach einigen Schritten vom Bürgersteig auf die Fahrbahn, denn es wäre ein Hindernislauf gewesen, auf dem schmalen, zugestellten Bürgersteig zu spazieren.
Nach ein paar Metern blieb mein Blick auf einem Stapel Sperrmüll hängen. Dort entdeckte ich eine kleine hellgraue Schreibmaschine und direkt daneben lag der Deckel, der sie zu einer Reiseschreibmaschine machte. Vorsichtig zog ich beide Teile aus dem Sperrmüll. Sie waren vor dem Regen am Morgen geschützt gewesen und sahen tadellos aus, sogar ein schwarz-rotes Farbband war eingelegt.
Das war der Moment, ab dem ich mich als Bohèmien, als unkonventioneller Künstler, empfand. Ein Aussteiger der darauf hin arbeitete als Schriftsteller erfolgreich zu sein.
„Glaube an dein Glück“, sagte ich hörbar und bewertete diesen Fund als ein gutes Omen; was es leider nicht war.
Begeistert nahm ich die Schreibmaschine, setze den neuwertig aussehenden Deckel drauf und ging mit zügigen Schritten weiter.

In meiner kleinen Wohnung empfing mich der Geruch von frischer Farbe. Ich stellte mein Fundstück neben eine kleine Schreibmaschine, die auch im letzten Jahrtausend hergestellt wurde, auf den Fußboden, spannte ein Blatt Papier ein und tippte ein paar Zeilen. Sogar das alte Farbband hatte noch genug Tinte und hinterließ einen sauberen Abdruck. Ich freute mich und blieb auf dem Fußboden sitzen.
Von hier aus betrachtete ich mein neues Zuhause. Ein Zimmer mit einem Erker zur Holzgasse. Stuckarbeiten an den hohen Decken und altes, dunkelbraunes Parkett im Rautenmuster auf dem Boden. Ohne Tür schloss ein Raum von vier Quadratmetern am Zimmer an. Dazu gehörte noch eine sehr kleine Küche in der neben einer zwei Meter langen Küchenzeile nur ein kleiner runder Stehtisch mit zwei Hockern Platz hatte. Das fast moderne Badezimmer mit Wanne und Fenster gab es erst seit der Renovierung des Hauses. Durch große Fenster war der Wohnraum lichtdurchflutet. Der kleine Balkon war ein Meter mal zwei Meter groß und nach Südwest. Er machte die Wohnung unter den gegebenen Umständen für mich perfekt. Die Miete für die fünfundvierzig Quadratmeter war niedrig.
Ich hatte wohl die richtigen Möbel mitgenommen; die zwei schwarzen Ledersessel und der kleine gläserne Wohnzimmertisch fanden vor der Balkontür ihren Platz. Das mit Abstand wertvollste Möbelstück, die Art-Deko-Kommode aus dem Jahr 1921, platzierte ich zwischen dem hohen Fenster und der doppelflügigen Balkontür. Sie passte wunderbar zu dem Parkett. Ergänzt wurde die Möblierung durch einen großen Tisch, einem Stuhl und ein Regal. Das war mein Arbeitsplatz, meine Schreibecke. Statt eines Wohnzimmerschranks stand das breite Bett im Raum und die Nische nutzte ich für meine Garderobe und Wäsche. Praktisch ein begehbarer Kleiderschrank. Meine viele Bücher, hauptsächlich Bildbände, waren an der Kommode, in Ecken und einfach an den Wänden gestapelt. Für den Umzug musste ich vieles aussortieren, verkaufen oder weggeben. Deutlich weniger als die Hälfte meines Besitzes hatte ich aus Platzmangel behalten können. Einige Bücher mussten in den Keller. Ich hatte sie gut verpackt und hoffte sie ausreichend vor der Feuchtigkeit in diesem uralten Keller geschützt zu haben.
Im Vergleich zu meinen früheren Wohnungen war das hier keine Wohnung, sondern ein Raum mit wenigen Möbeln und vielen Büchern.

Das sind die ersten ca. 10 Seiten meines Romans > Bohème heute < Der Text ist fertig. Es sind 563 Normseiten.

Andreas hat durch seine Krankheit alles verloren: Geld, Firma, Partnerin und Wohnung. Als Plan B versucht er seine alte Leidenschaft fürs Schreiben zu seinem Beruf zu machen. Doch seine Krankheiten, seine ständig Geldnot und schwierige Partnerschaften machen aus dem Traum einen Albtraum. Als ihn seine Vergangenheit einholt scheint sein Leben als Bohème beendet.

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