„Jürgen ist tot!“
Tillmann sagt es mit trauriger Stimme, doch so laut, dass Angelika es im Badezimmer hören kann.
Er steht am Panoramafenster seines Appartements und lässt seinen leeren Blick über die kahle Stadt schweifen. Vom 21. Stockwerk aus gesehen liegt die Stadt, wie die gigantische Landschaft einer Modelleisenbahn, unter ihm. Durch die geöffnete Balkontür kommt die noch kalte Frühlingsluft und das Rauschen der Stadt in sein Appartement. Seine Gedanken sind bei den zwei Bekannten, die er in den letzten Monaten auch verloren hat.
Angelika kommt zu ihm. Sie legt ihren rechten Arm um seine Hüfte und lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Sein Blick bleibt in die Ferne gerichtet. „Manfred hat mir gerade eine Nachricht geschickt. Jürgen wurde tot aufgefunden“, und nach einer Pause: „Jürgen ist nun schon der Dritte. Wo soll das noch hinführen?“
Nach einer Weile gibt Tillmann ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Mach's gut und pass' auf dich auf.“
„Mach ich.“
Eine leere Sektflasche, an der das getaute Eis das Etikett abgelöst hatte, steckt kopfüber im Flaschenkühler. Auf einem großen Porzellanteller liegen noch ein ein paar Häppchen mit Lachs oder Schinken. Zwei nicht leer getrunkene Sektgläser und das Geschirr vom gemeinsam verbrachten Abend stehen noch herum. Es war eine sehr schöne Nacht mit Angelika, doch jetzt will er einfach nur alleine sein. Das Radio schaltet Tillmann wieder aus. Die Unordnung in seinem Kopf, ist genaue so groß, wie die Unordnung in seiner Wohnung. Der plötzliche Tod von Jürgen fesselt jeden seiner Gedanken.
Langsam beginnt er, sein kleines Appartement aufzuräumen. Antriebslos und mit vielen Unterbrechungen, schafft er es, das Geschirr abzuspülen und Ordnung in seine Wohnung zu bringen. Alles hat seinen Platz. Die wenigen Möbel in seinem Appartement sind im Stil des Art Deco gehalten. Wenige exakt platzierte Accessoires unterstützen die elegante Note. Heute kann er sich solche Möbel und Objekte nicht mehr leisten, doch es gab Zeiten in seinem Leben, da waren solche Sachen für ihn alltäglich.
Bis auf einen kleinen Bauchansatz hat Tillmann eine schlanke Figur. Sein Gesicht scheint oval und zwei tiefe Falten hinterlassen einen gelebten Eindruck. Sein welliges, fast weißes Haar trägt er kinnlang und bindet es selten zu einem kurzen Zopf. Mit seiner Lesebrille auf der Nasenspitze macht er einen nachdenklichen, wissenden Eindruck. Sein Gang ist aufrecht und zügig. Seine Bewegungen sind insgesamt schnell und manchmal hektisch. Obwohl er schon fast 15 Jahre an der Krankheit leidet, wird er selten älter als 55 Jahre geschätzt.
Am späten Nachmittag ist Tillmann mit René auf einen Kaffee verabredet. Sie treffen sich im Selbstbedienungs-Café an der Fußgängerzone, direkt gegenüber der kleinen Geschäftspassage
Nachdem sie sich vor 5 Jahren in der psychosomatischen Tagesklinik kennen gelernt haben, ist René Tillmanns Freund und Weggefährte. René ist so alt wie Tillmann. Auch er war beruflich selbständig und musste aus gesundheitlichen Gründen seine Versicherungsagentur aufgeben. René ist ein Playboy und versucht das Leben in vollen Zügen zu genießen. Immer Sonnenbank gebräunt und modisch gekleidet, fällt er mit seinen über 1,90 Metern Länge schon auf. Sein eleganter Schnauzbart und sein immer akkurat geschnittenes schwarzes Haar lassen ihn wie ein Lebemann aussehen. Die kleine Narbe am rechten Augenbrauen gibt ihm etwas Geheimnisvolles. Seine Krankheit und ein vorübergehender finanzieller Engpass verderben ihm zurzeit den Genuss am Leben.
Manfred ist auch da. Er berichtet, dass die Schwester von Jürgen ihn fand, als sie die Wäsche brachte. „Ich hatte ja viel Kontakt mit ihm in der Gruppe und ich kenne auch seine Schwester, woll. Für uns ist es ein totaler Schock. Ihm ging es in letzter Zeit deutlich besser, woll. Der Leichnam ist von der Polizei beschlagnahmt worden und wird obduziert. Die Todesursache kennen wir noch nicht, woll.“
„Wer kein schönes Leben hatte, kann immer noch auf einen schönen Tod hoffen“, sagt René und Tillmann ergänzt: „und sterben ist ja auch gar nicht so schwer, denn bisher hat es noch jeder geschafft.“
Manfred dreht sich bei den Äußerungen weg. Er hätte sie am liebsten nicht gehört.
„Seneca soll einmal gesagt haben: „Nicht nur einen Tod gibt es. Der uns dahinrafft, ist nur der letzte“, zitiert Tillmann, „das traf auf Jürgen wahrscheinlich auch zu.“
„Vielleicht stirbt man nur, wenn die Zeit abgelaufen ist, egal ob Suizid oder nicht“, spekuliert René während er seinen Kaffee austrinkt.
Tillmann fragt, ohne René direkt anzusprechen: „Und wer bestimmt, wann die Zeit abgelaufen ist? Irgendeine Metamacht oder Gottheit?“
„Jetzt muss ich mich aber spurten, um noch pünktlich zur Redaktionssitzung zu kommen.“ Tillmann ist schon seit ein paar Jahren Mitglied der Redaktion alles irre. Für die kostenlose Zeitschrift, die ehrenamtlich von Psychiatrie erfahrenen Menschen gemacht wird, schreibt er regelmäßig Artikel. Seit er seine berufliche Selbstständigkeit aufgeben musste, verfasst er Artikel, Kurzgeschichten und Romane. Den aktuellen Roman hat er vor fast sechs Monaten angefangen zu konzipieren und inzwischen seitenweise Ideen notiert. Aber er hat noch keine einzige Zeile geschrieben.
„Das muss ich in den nächsten Tagen ändern“, schimpft er frustriert und wütend auf sich selber. Doch die Sorgen um Angelika und der Kampf mit der Psyche sind nicht alles, was ihn immer wieder daran hinderte.
Der nächste Tag ist ein sehr kalter Frühlingstag, an dem die wenigen Sonnenstrahlen das Raureif auftauen mussten. Durch die frische trockene Luft fühlt es sich kälter an, als es ist. Dick verpackt treffen sich Angelika und Tillmann am Hochhaus.
„Sieht gut aus, aber glaubst du, dass die weiße Hose bei dem Matsch am Fluss lange weiß bleibt?“
„Egal, ich trage immer weiße Hosen. Wenn sie dreckig ist, kommt sie halt in die Wäsche. Ist halt eine Macke von mir“, und lachend fügt er hinzu: „Aber bitte, nenne mich demnächst nicht Hosenweiß.“
„Ich weiß, du bist eitel und eigen.“
Nachdem sie sich umarmt und ein Küsschen gegeben haben, gehen sie vergnügt die Fußgängerzone entlang, zum Fluss hinunter. Wie immer, sehr nah an den Häusern entlang. In den Auen und am ehemaligen Leinpfad, der stückweise einer Allee gleicht, ist die Luft deutlich kühler als in der Innenstadt. Sie spazieren bis zur hölzernen Fußgängerbrücke und auf der anderen Seite des ausgebauten Flussbettes wieder zurück.
„Für so lange Strecken hat man ja eigentlich das Auto erfunden, aber man kann ja mal eine Ausnahme machen“, scherzt Tillmann.
„Das sind vielleicht fünf Kilometer die wir spazieren und ein Auto kann hier eh nicht fahren.“
„Sag ich ja, man kann auch mal eine Ausnahme machen. Und zur Entschädigung, weil ich diesen langen Weg zu Fuß gehen muss, bekomme ich gleich ein extra großes Eis.“
Doch die Besitzer der Eisdiele sind noch im Winterurlaub. Sie entscheiden, an der Trinkhalle ein Eis zu kaufen und sich auf eine Parkbank, etwas abseits vom Ufer, zu setzen. Aneinander gekuschelt und mit Handschuhe, Schal und Mütze warm eingepackt, genießen sie ihre Milcheis. In Gedanken versunken, lässt jeder seinen Blick über die noch winterlichen Auen gleiten. Angelika entdeckt ein Nutria das neugierig aus seinem Bau herausschaute, so, als will es nachschauen, ob der Frühling schon da ist. Auf dem stillen Wasser balzt ein früher Stockenterich um die Gunst einer Entendame. In ganz schattigen Ecken liegt noch der Raureif auf den Ästen. Nur in den windgeschützten Nischen kann man die ersten Knospen erkenne, die als Vorboten gegen die Kälte kämpften und den Frühling ankündigen.
Das sind die ersten 8 Seiten meines Romans >Sie leben trotzdem<.
Sie leben trotzdem spielt im Milieu psychisch kranker Menschen, die den sozialen Abstieg durchlebt haben. Heute müssen sie mit ihren Einschränkungen durch Depressionen, Manien, Ängsten, Traumata, Wahnvorstellungen, Suizidgefahren und den Nebenwirkungen ihrer Medikamente gegen die Willkür auf Ämtern, finanziellen Schwierigkeiten, Problemen im Umfeld und den normalen alltäglichen Herausforderungen kämpfen. Trotzdem versuchen sie, ihrem Leben etwas Lebenswertes abzugewinnen.
Der sehr authentische Roman gibt einen gefühlvollen Einblick in die Welt psychisch kranker Menschen. Von Jahr zu Jahr steigt die Zahl der Betroffenen und psychische Krankheiten sind mittlerweile der zweithäufigste Grund für eine Frühverrentung.