Traumhaft südlich …

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Das Aug des Tages schob sich früh in meine Nacht,
Die südlich war und Trauerkleider trug; sie ließ die
Schwarzen Schleppen über alle Schwellen rauschen,
Pflanzte sich fort: bleichwangig, tränenreich, grad wie
Madonnen in Trauerprozessionen unterm Fieberschwert
der heißen Sonnen.

Das Mutterkorn … es graste auf den Sommerfeldern;
Ein tödlich Raunen war zu hören aus den Pinienwäldern.
Tief in den Brunnen krümmten sich die blanken Münzen.
Und Leichen wurden aufgebahrt in Kathedralen zwischen
Lichtermeeren; nie sah ein Mensch zuvor so viele Kerzen.
Und wer hätte gedacht, dass Mutterkorn auch Schmerzen
bereiten kann, wo Heiligtum im Licht der Liebe wandelt?

Hans von Marées, vereinsamt, menschenscheu, malt mir in Rom
Den Himmel blauer noch als die Lagunen, wenn die Flut sie
Kämmt, was tiefen Schlaf mir einbringt und vergessen lässt ...
Vergangenes: Modena und das Korn, verheert von violetter Pest.
Und schwängert dann die schwarze Gischt der Nacht Neapel

Und die vielen kleinen Häfen, fall ich dem Ufersaum ins
Aprikosenwort, vom sanften Abendwind getragen. – Und warte …
Selbst wenn mir vorher alle Sinne schwinden, bis der Morgennebel
Sich lichtet und sein graues Kleid zerreißt ... Und bis
In meinem Traum geschmolzen ist das Eis, das mich noch
Von dir trennt, weil 's keine Lieb und keine Sehnsucht kennt.

Zum Foto: Der Petersdom in Rom mit der Kuppel von Michelangelo. Es handelt sich um die größte (und wohl auch schönste) Kirche der Christenheit.
Traum und Gedicht nach der Lektüre „Römische Skizzen“ von Ingeborg Bachmann, die in den fünfziger Jahren Auslandskorrespondentin in Italien war und für den deutschen Rundfunk schrieb.
Mutterkorn: Das Mutterkorn (lateinisch Secale cornutum) ist eine längliche, kornähnliche Dauerform (Sklerotium) des Mutterkornpilzes (Claviceps purpurea). Für Mensch und Vieh stellt der Befall von Nahrungs- und Futtergetreide mit diesem Pilz ein Problem dar, denn die im Mutterkorn enthaltenen Alkaloide weisen eine hohe Toxizität auf. Besonders häufig betroffenes Nahrungsgetreide ist Roggen, aber auch die als Viehfutter genutzten Getreide Triticale, Weizen, Gerste, Hafer und Dinkel. Über 400 Gräser insgesamt sind befallgefährdet, auch das an der Nordseeküste vorkommende Salz-Schlickgras (Spartina anglica).
Zu den toxischen Effekten von Mutterkornalkaloiden zählen Darmkrämpfe, Halluzinationen sowie das Absterben von Fingern und Zehen aufgrund von Durchblutungsstörungen, die das Krankheitsbild Ergotismus (auch Antoniusfeuer oder Mutterkornbrand) prägen. 5 bis 10 Gramm frisches Mutterkorn können bei einem Erwachsenen zu Atemlähmungen und Kreislaufversagen führen und tödlich sein (Quelle: Wikipedia).
Anfang der fünfziger Jahre befiel das Mutterkorn Getreidefelder bei Modena/Italien (Ingeborg. Bachmann berichtetet darüber aus Rom).
Johann (Hans) Reinhard von Marées (* 24. Dezember 1837 in Elberfeld, heute zu Wuppertal; † 5. Juni 1887 in Rom) war ein deutscher Zeichner, Grafiker und Maler des Idealismus.

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