Natsuko, Kind des Sommers,
steigt den Frühlingsweg hinunter ...
In einem Dorf am Fudschijama
steht ihr kleines Haus. –
Noch halb im Schlaf: Natsuko ...
ist betäubt, kein bisschen munter. –
Sie hält die Schmerzen in den
Füßen kaum noch aus.
Natsuko in der Morgenfrühe
will zur Mandelblüte nach Hakone,
macht kleine Schritte, geht auf „Lotoslilien“:
deformierten Füßen, einstmals eingebunden.
O Miso, Shushi, Stäbchen, Manga, Sojabohne ...
War Geisha: süße Clownin, weiß geschminkt –
mit feuerroten Lippen, damals noch …
in ihrer Jugendblüte, unweit Nagasakis,
hat sie ihr Dasein als recht lebenswert empfunden.
Natsuko in der Morgenfrühe denkt an Murakami ...
war in Hakone gern gesehn als Gast im Fujiya-Hotel.
Sie trafen sich beim Mandelblütenfest im Mai:
Der Mond hing über den Hakone-Bergen: gelb und rund;
die Nacht war warm und draußen war es noch fast hell.
Er kam aus Odawara; sie verstanden sich auch ohne Worte.
Ein Element: Sie war das Wasser, er das Eis.
Natsuko zog zu ihm ins Dorf am Fudschijama …
Das Tor des Sonnenlichts* stand Jahre für sie offen.
Als Murakami starb, verschwanden Sinn und Hoffen,
und auch Natsukos Haar ward winterlich und weiß.
Erinnerung: ein bunter Falter über Sommerfelder ...
Er schwebt voraus, streift Ähren wie ein Schatten.
Das Unnennbare – oft geschönt, mit mildem Blick,
fügt Schmerzen zu und oft schmerzt auch,
was niemals wiederkommt: vergangenes Glück.
Natsuko in der Morgensonne träumt davon,
wie lieb sich Murakami und sie hatten.
Am Horizont flaniert pazifisch, weckt Begehr …
der Ozean. Natsuko taumelt, stürzt und sieht
das Sonnenlicht nicht mehr. –
Das Tor, das noch am Morgen halb geöffnet war,
ist zugefallen.
*„Das Tor des Sonnenlichts ist das strahlende Beispiel für die Blüte der japanischen Handwerkskunst zu Beginn der Edo-Zeit. Kein Wunder, dass dieses Meisterwerk, an dessen Bau Tausende von Handwerkern beteiligt waren, auch ,Higurashimon' genannt wird: Tor, an dem man den ganzen Tag verbringt bzw. ,Tor der Dämmerung', denn wer all die Drachen und anderen Fabelwesen, Szenen aus dem Leben legendärer chinesischer Heiliger, Blumen und Vögel eingehend betrachtet hat, ist bis zum Abend beschäftigt.“
Quelle: Baedeker, Reiseführer Japan.
P.S.: In früherer Zeit wurden auch in Japan die Füße vieler Kinder im Alter von drei, vier Jahren regelmäßig „im Wasser eingeweicht“ und dann straff gewickelt, die Zehen an die Fußsohlen gepresst, so dass letztendlich die Knochen brachen. Das galt damals als „schön“. Je kleiner der Fuß, desto besser war der gesellschaftliche Ruf. Man nannte diese Füße Lotosfüße oder Lotoslilien. Als später dann die Frauen von dieser Tortur befreit, die Füße aufgewickelt wurden, mussten sie unerträgliche Schmerzen erleiden – und ihre Füße blieben meist für immer verkrüppelt und sahen alles andere als schön aus. Quelle: Anne Li, aus dem Gedächtnis ... weil ich viel darüber gelesen habe.
Kommentare
Dem Blick - exotisch, in die Ferne -
Folgt jeder Leser hier wohl gerne!
(Ein Drachen, vor dem Tor:
Das kommt bekannt mir vor ...)
LG Axel
Das kann doch nur Frau Bertha sein ...
Sie wartet dort auf Dich und lässt Dich ein.
LG Annelie
schön,
kann ich nur sagen
LG Alf
Danke, lieber Alf,
LG Annelie
Quelle: ANNE LI - weil Dein Interessensspektrum unglaublich breit gefächert ist, meinen großen Respekt hast Du dafür, ich habe wieder etwas dazu gelernt, das Thema ist mir bekannt, doch ich staune, wie Du Dich mit behutsamen Worten in das Wesen des fernöstlichen japanischen Denkens hinein fühlst, und dann noch ein passendes Bild ...
liebe Grüße - Marie
Beeindruckend dargebracht in wundervoller Poesie.
Das entspricht ganz Deinem Talent, liebe Annelie.
Schließe mich gerne den Worten an von Marie.
Liebe Grüße,
Monika
Auch über Dein Lob, Deine lieben Worte, freue ich mich sehr, liebe Monika. Dann gilt selbstverständlich auch für Dich, was ich gerade an Marie geschrieben habe. Ich kann den Text in dieser Position nicht orten, glaube aber, er steht unter diesen Worten hier an Dich.
Auch zu Dir und Khalessi ganz liebe Grüße und einen schönen Abend,
Annelie
Liebe Marie, vielen lieben Dank für Deinen lobenden Kommentar. Es gab eine Zeit, da habe ich fast ausschließlich Romane und Sachbücher aus Japan und China gelesen. Ich glaube auch zu wissen, weshalb mir diese fernöstlichen Länder so gefallen. Im Baedeker, Japan betreffend, lese ich fast jeden Tag ein wenig, und ich werde gewiss einmal auch dorthin fahren. Das zumindest habe ich mir fest vorgenommen. Was mir ganz besonders an diesem Land gefällt, sind die Höflichkeit und der Respekt unter- und füreinander. Ich glaube nämlich, dass das Benehmen echt ist. Die Menschen sind dort anders als hier, zurückhaltender auf jeden Fall, ernster vielleicht auch, und sie machen mehr mit sich selber aus, als gleich jedem zu vertrauen und ihr Leid in die Welt hinauszuschreien. In Japan soll der "schreckliche Brauch, was die Einbindung der Füße" betrifft, auch deutlich sanfter ausgefallen sein als in China - trotzdem ... Ich weiß auch, dass die Grausamkeit der Japaner in Kriegen beklagt wird, aber wenn ich an das Dritte Reich denke, glaube ich kaum, dass Japan die Kriegsgreuel noch übertroffen haben könnte.
Liebe Grüße zu Dir und einen schönen Abend,
Annelie
Liebe Anneli, Du hast die Geschichte von Natsuko liebevoll und behutsam erzählt. Und sie hat auch - auf ihre Art - ein Happy End. Du hast es geschafft, dich in einen anderen Kulturkreis hineinzudenken und die richtigen Worte zu finden. Aus der Ferne und doch nah.
In Japan band man den Mädchen die Füße. In anderen Erdtteilen gibt es Beschneidungen, Zwangsehen oder weibliche Embryos werden gleich abgetrieben. Es ist schon erstaunlich, was sich die Welt alles einfallen lässt, um Frau an der eigenen Entwicklicklung zu hindern. Und noch erstaunlicher ist es, dass es meistens Mütter und Großmütter sind, die diese Greultaten vorantreiben vorantreiben.
Alles Liebe und Gute,
Susanna
Liebe Susanna, Dein Kommentar hat mich verblüfft, weil er so gut und treffend war. Vielen lieben Dank. Tatsächlich scheint es sich so in vielen Fällen zu verhalten. Auch das ist einigermaßen verblüffend, weil man doch annehmen sollte, dass der Charakter sich mit dem Alter zum Positiven entwickelt, dass man mit dem Alter klüger wird (anderenfalls hat man sich nicht viele Gedanken gemacht). Dass selbst Großmütter Unrecht nicht sehen, nicht einsehen, ist nahezu erscheckend. Beschneidungen und Zwangsehen - damit stellt man die Weichen für ein unglückliches Leben. Auch das Einbinden der Füße, mit großen Schmerzen und Verstümmelungen verbunden, hat "Frau" gehindert, IHREN Weg zu gehen - in Deutschland war es früher das rigide Abtreibungsverbot, wieder aktuell in Irland, dass viele Frauen an der Selbstverwirklichung gehindert und Träume zunichte gemacht hat. Man kann darüber streiten, und ich weiß auch, dass eine andere Lösung, mehr und bessere Kinderkrippen, größere Unterstützung in der Gesellschaft etc. die bessere Lösung wäre.
Liebe Grüße zu Dir, einen schönen Tag, Susanna,
Annelie
Danke, liebe Sabrina. Dir einen schönen Tag
und liebe Grüße nach Berlin - zu Dir,
Annelie