Unterbrechung der Sprachlosigkeit

Bild von Antonia Löschner
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Letzten Sonntag ist Ute bei ihren Eltern zu Besuch gewesen. Es war ein nettes Treffen, wirklich, aber zunehmend fragt sie sich, ob das mit diesem Schweigen so weitergehen kann. Das Schweigen über Dinge, die sie eigentlich lösen sollten.
Schon damals, in ihrer Kindheit, wurde bei Ute daheim über manche Themen einfach nicht gesprochen, als ob es diese nicht gäbe. Dabei ging es nicht um schlimme Sachen, die Familie hatte keine Leichen im Keller. Ausgeklammert wurde hier nur alles Psychische – wie Probleme oder Dinge, die sie störten und die sie gerne geändert hätten.
Ute ist da anders, sie möchte endlich auch über solche Themen reden, doch ihre Eltern blocken dies ab. Die seltenen Male, bei denen sie versucht hatte, etwas in dieser Art anzusprechen, wurden sie furchtbar nervös und mussten plötzlich dringend Wichtigeres erledigen.
Das erste Mal gab ihre Mutter vor, ausgerechnet jetzt ein unaufschiebbares Telefonat führen zu müssen. Das zweite Mal bekam sie wie aus dem Nichts unfassbare Kopfschmerzen. Und das dritte Mal – öfter hat Ute es bisher noch nicht probiert – hatte sie vollkommen vergessen, die Blumen zu versorgen, was leider so viel Konzentration erforderte, dass sie nicht in der Lage war, die Unterhaltung fortzusetzen.
Aber ihr Vater verhielt sich da auch nicht besser. Bevor es zu diesen Themen kommen konnte, zog er sich unauffällig – unter dem Vorwand, noch etwas für den nächsten Tag beruflich vorbereiten zu müssen – aus der Affäre. Dabei wollte Ute doch nur einfach einmal reden, über sich und über das, was sie beschäftigt.
Ute lebt zusammen mit ihrem Mann, aber sie ist oft allein. Ihr Mann arbeitet sehr viel und ist häufig geschäftlich unterwegs. Kommt er dann nach Hause, will er lieber etwas Schönes mit ihr unternehmen, anstatt nachdenkliche Gespräche zu führen. Er hört sich zwar ihre Ausführungen geduldig an, doch neue Anregungen erfährt sie dadurch nicht.
Mit ihrer engsten Freundin Karin unterhält sich Ute eigentlich ziemlich gut, allerdings immer nur über dieselben Themen. So dreht sich hier das Gespräch vor allem um ihr ähnliches Los, denn Karins Mann ist beruflich ebenfalls viel auf Reisen und er will auch nie reden. Karin kann dies stundenlang erörtern, wobei ihr die Erkenntnis und immer wieder die Versicherung reichen, mit ihrem Schicksal nicht allein zu sein. Aber das ist Ute nicht genug. So gerne spräche sie über noch viel mehr: über ihre weiteren Gedanken, Gefühle, Sorgen.
Manchmal fühlt sich Ute nämlich urplötzlich traurig – wie aus heiterem Himmel. Sie wundert sich dann über sich selbst, weil sie normalerweise ein sehr fröhlicher Mensch ist. Die Phasen unerklärlicher Traurigkeit zwischendurch belasten sie. Leicht könnte man hier eine Depression vermuten, doch das ist es nicht. Ute weiß, sie ist nicht krank, das muss irgendetwas anderes sein. Sie ahnt bereits, dass es da einen Zusammenhang mit ihren ebenfalls wiederkehrenden Einsamkeitsgefühlen gibt.
Denn Ute fühlt sich außer traurig bisweilen erstaunlich einsam, und das nicht nur, wenn sie allein ist, sondern auch in Gesellschaft – manchmal sogar in Anwesenheit ihrer Lieben. Da es sich dabei jedoch um ein gesellschaftliches Tabuthema handelt, traut sie sich nicht, darüber zu sprechen. Deshalb kann sie folglich nicht herausfinden, ob es den anderen vielleicht genauso geht, und gegebenenfalls gemeinsam mit ihnen die Ursachen dieser Gefühle erschließen.
Allerdings möchte Ute auch nicht mit jedem über ihre seelischen Angelegenheiten reden. Sie schaut sich die Menschen, denen sie ihr Innerstes anvertrauen würde, schon sehr genau an. Nur zu gut hat sie über die Jahre gelernt, dass nicht alle Menschen erhaltene Informationen mit der erhofften Umsicht behandeln. Ihre Sorge, bei unbekümmerter Offenheit verletzbar zu werden, ist somit durchaus begründet.
Darum will Ute lieber zuerst mit denjenigen sprechen, von denen sie bereits aus Erfahrung weiß, dass sie es gut mit ihr meinen: ihre Eltern, ihr Ehemann und ihre engsten Freunde. Gleichzeitig ist ihr jedoch völlig bewusst: Selbst bei diesen könnte es Grenzen des Verstehens geben. Deren Liebe und Verbundenheit versetzen sie ja nicht automatisch in die Lage, alle Gedanken, Gefühle und Sorgen von Ute nachzuvollziehen.
Dennoch ist sie zuversichtlich, so jemanden ausfindig zu machen. Jemanden, der sie versteht und mit dem sie alles besprechen kann, sogar das, was man gewöhnlich für sich behält. Dieser müsste nicht unbedingt aus eigener Erfahrung dieselben Probleme kennen, aber er sollte fähig sein, über jene Themen zu reden, ohne Ute dabei zu verurteilen.
Um diesen zu finden, muss sie jedoch anfangen, sich in einem gesunden Maß zu öffnen und ihre wahren Ansichten, Bedürfnisse und Vorstellungen durchscheinen zu lassen – mit dem Risiko, nicht von allen verstanden zu werden. Ute weiß das eigentlich, trotzdem ist es alles andere als leicht, diese Sprachlosigkeit zu durchbrechen.
Aber gestern vor dem Einschlafen hat sie sich fest vorgenommen: Morgen ist es so weit, dann kommt endlich der Tag, an dem sie beginnen wird, aktiv daran zu arbeiten, dem Schweigen ein Ende zu bereiten. Zuerst will sie dabei mit ihren Lieben anfangen, diesmal wird Ute sie nicht mehr vom Haken lassen. Und wer weiß, vielleicht wird sie ja positiv überrascht.

Veröffentlicht / Quelle: 
In: Alltagsperlen: Kurzgeschichten und Gedichte, 2017