In Betrachtung des Schwarms

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von Alf Glocker

Nahe an der Seelenlosigkeit und ganz nah am kollektiven Verderben haust der Schwarm, in der Endlichkeit eines tristen Seins, wo es nur darauf ankommt, die eigene Bewegung auf die Bewegung der anderen abzustimmen. Handlungen sind nur auf Kommando erlaubt und die Kommandos sind ohne erkennbaren Ursprung, rein instinktiv.

Schwärme sind bedroht durch einzelne Jäger, durch Jägerrudel und durch Trittbrettfahrer aller Art, die auch etwas vom großen Happen abhaben wollen. Aber das Schlimmste ist es für einen Schwarm von Opfern, auf einen Schwarm von Jägern zu treffen. Denn beide Schwärme sind fremdgesteuert – sie unterliegen einem gemeinsamen Oberwillen.

Am besten beobachten lässt sich das Schwarmverhalten in Swingerclubs, bei großen Tierwanderungen, in Tempelgebäuden oder in Weltkriegen, wobei die Swingerclubs vermutlich noch die harmloseste Variante darstellen. Insektenstaaten dürfen natürlich nicht vergessen werden – sie stellen sicher das Urmodell für das Schwarmverhalten dar.

Für reine Individualisten meistens gar nicht nachvollziehbar, entsteht in Schwärmen jene geheimnisvolle Dynamik, deren diabolische Kraft auch noch außerhalb der Schwärme zu spüren ist. Es ist, als treibe alles in einen Sog, in den Malstrom der Zeit, in das Schwarze Loch für Materie und Geist, aus dem es kein Entrinnen gibt. Sie ist ein Todessymbol!

Erstaunlich ist wohl, daß vor allem Mitläufer denken, im Schwarm sei ihr Überleben am gesichertsten, obwohl Voltaire, Schiller und Kant dies beweiskräftig widerlegt haben. Das mag einerseits daran liegen, daß die meisten Tiere gar nicht lesen können und viele Menschen Gelesenes nur andererseits im Schwarm verarbeiten, was natürlich zu Irrtümern führt.

Aber da hat der Mensch im Schwarm den Tieren was voraus – er bekommt immerhin auch die richtigen Informationen, bevor er falsch handelt. Zwar gibt es eine Fülle von Informationen, die Menschen theoretisch zur Verfügung stehen, aber dann hat er die Freiheit, sich selbst welche auszusuchen. Und das tut er halt nicht, er lässt denken.

Gerade deshalb fällt es bisweilen schwer, Menschen grundsätzlich für unschuldig zu halten, obwohl es ja zutrifft: Ein Mensch, der sich andauernd den ihm empfohlenen Entscheidungen beugt, weil er befürchtet, sonst im gesellschaftlichen Aus zu landen, ist wahrscheinlich unschuldig. Er zeigt völlig falsche Reaktionen, kann aber nichts dafür.

Er ist, wie der Schwarmfisch im Meer, von Haien umkreist und von oben stoßen die Kormorane herab, um sich ihren Teil an der Beute zu sichern, und irgendwo, im dichten Haufen, bemüht sich ein einzelnes Subjekt, ein kleiner Fisch also, am Leben zu bleiben. Das ist nicht ganz einfach, denn das ganze Spektakel ist ja gelenkt … von wem, darf man aber nicht sagen.

Ebenso die Büffelherden in der Serengeti. Sie stellen sich nur selten im Kreis auf, um den Löwen die Stirn zu bieten … und wenn, dann retten sie keinen, der bereits längst außerhalb ihrer Herde steht … an dem die Raubtiere bereits herumknabbern. Sie sind ja nicht selbst betroffen und die Masse der Tiere wird voraussichtlich überleben. Anders der Mensch.

Er besitzt Verstand genug, um sich selbst, mit den ausgeklügeltsten Methoden, vernichten zu lassen. Im Schwarm tritt er an und im Schwarm wird er zerfetzt, niedergemacht, ausgetrickst, wegrationalisiert, ausgerottet, durch andere ersetzt. Und was tut er? Er orientiert sich danach, wie er, im letzten Stündlein, noch Geschäfte machen kann! Toll!

Das nenne ich „tüchtig“! Was im Gehirn so eines Schwarmmitglieds vorgeht, ist schon sagenhaft. Wie könnte man es wohl beschreiben? „Mal linksherum, mal rechtsherum, mal durch die Mitte, dann kaputt“? Fragen wir die Toten, die Gefressenen, die Übertölpelten – die werden uns sagen können, was sie angetrieben hat. Die andern sind noch mitten drin.

Sie schleudern ihre Gefühle noch wild in der Gegend herum. Sie wollen noch etwas abbekommen von der Wildheit des Lebens, von der Bewusstlosigkeit des Bewusstseins, das sie für eines halten, obwohl es doch keines ist, sondern lediglich die Vorspiegelung eines absichtlichen Nach der Decke Strecken. Aber die Decke ist überall. Oben, unten, wo?

Zum Schluss sollte vielleicht nicht ganz unerwähnt bleiben, daß Hormone in Bezug auf den Schwarm eine große Rolle spielen. Wenn man z.B. für seinen „Schwarm“ alles tun würde … für die sympathische Sängerin aus der Hitparade, für Mao Zedong, oder für das kleine rothaarige Mädchen in der Nachbarschaft, oder für sonst einen Fetisch.

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