DER KETZER VON SOANA - Page 7

Bild zeigt Gerhart Hauptmann
von Gerhart Hauptmann

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freilich durch Abwässer stark
verunreinigt, Baumgärten und blumige Wiesen wässerte. Jenseit der
Kirche, ein wenig höher, was von hier aus nicht festzustellen war, lag
auf rundem, flachen Terrassenhügel das älteste Heiligtum der Umgegend,
eine kleine Kapelle, der Jungfrau Maria geweiht, deren verstaubtes
Kultbild auf dem Altar von einem byzantinischen Mosaik der Apsis
überwölbt wurde. Dieses, trotz tausendjährigen und höheren Alters in
Goldgrund und Zeichnung wohlerhaltene, Mosaik stellte Christus
Pantokrator dar. Die Entfernung von der Hauptkirche bis zu diesem
Heiligtum betrug nicht über drei Steinwurfsweiten. Eine andere hübsche
Kapelle, diese der heiligen Anna geweiht, lag in der gleichen
Entfernung von ihr. Über Soana und hinter Soana erhob sich ein äußerst
spitzer Bergkegel, der im Umkreis natürlich von weiten Talräumen und
den Flanken der überragenden Generoso-Kette umgeben war. Dieser
beinahe zuckerhutartige, aber bis oben begrünte, scheinbar
unzugängliche Berg hieß Sant Agatha, weil er auf seinem Gipfel zur Not
ein Kapellchen eben dieser Heiligen beherbergte. Dies waren im engsten
Umkreis der Ortschaft eine Kirche und drei Kapellen, der sich im
weiteren Kreise der Pfarre drei oder vier andere Kapellen anreihten.
Auf jedem Hügel, an jeder hübschen Wegwende, auf jeder weithin
blickenden Spitze, da und dort an malerischen Felsabstürzen, nah und
fern, über Schlucht und See hatten fromme Jahrhunderte Gotteshäuser
angeklebt, so daß in dieser Beziehung die tiefe und allgemeine
Frömmigkeit des Heidentums noch zu spüren war, die im Verlauf
vergangener Jahrtausende alle diese Punkte ursprünglich geweiht und so
gegen die bedrohlichen, furchtbaren Mächte dieser wilden Natur sich
göttliche Bundesgenossen geschaffen hatte.

Der junge Eiferer sah alle diese Anstalten römisch-katholischen
Christentums, wie sie den ganzen Kanton Tessin auszeichnen, mit
Befriedigung. Freilich mußte er sich zugleich mit dem Schmerz des
echten Gottesstreiters eingestehen, daß in ihnen weder überall ein
reger und reiner Glaube lebendig war, noch auch nur eine genügend
liebevolle Fürsorge seiner Amtsbrüder, um alle diese verstreuten,
himmlischen Wohnstätten vor Verwahrlosung und Vergessenheit zu
bewahren.

Nach einiger Zeit ward in den engen Fußsteig eingebogen, der in
dreistündiger, mühsamer Steigung zum Gipfel des Generoso führt. Dabei
mußte sehr bald das Bett der Savaglia auf einer verfallenen Brücke
überschritten werden, in deren nächster Nähe das Sammelbecken des
Flüßchens war, das von da aus in seinen selbstgebildeten Erosionsspalt
von hundert und mehr Meter Tiefe hinabstürzte. Hier hörte Francesco
aus verschiedenen Höhen, Tiefen und Richtungen neben dem Rauschen des
zu seinem Sammelbecken heraneilenden Wildwassers, Herdengeläut und sah
einen Mann von rauhem Äußeren -- es war der Gemeindehirt von Soana! --
der lang auf der Erde ausgestreckt, sich mit den Händen am Ufer
stützend, den Kopf zum Wasserspiegel hinabgebeugt, ganz nach Art eines
Tieres seinen Durst löschte. Hinter ihm grasten einige Ziegenmütter
mit ihren Zicklein, während ein Wolfshund mit gespitztem Ohr auf
Befehle wartete und des Augenblicks, wo sein Meister und Herr mit
Trinken fertig war. »Auch ich bin ein Hirte,« dachte Francesco, und
als jener sich von der Erde erhob und mit schneidendem Pfiff durch die
Finger, der an den Felswänden widerhallte und mit weit ausholenden
Steinwürfen seine überallhin verstreuten Tiere bald zu schrecken, bald
weiter zu treiben, bald zurückzurufen und überhaupt vor der Gefahr
des Absturzes zu bewahren suchte, dachte Francesco, wie dies schon bei
Tieren, geschweige bei Menschen, die der Versuchung des Satans
allezeit preisgegeben waren, eine mühevolle und verantwortungsschwere
Arbeit sei.

* * * * *

Mit doppeltem Eifer begann nun der Priester weiter zu steigen, nicht
anders, als wenn zu fürchten gewesen wäre, der Teufel könne auf diesem
Wege zu den verirrten Schafen womöglich der Schnellere sein. Als er,
immer von seinem Begleiter geführt, den Francesco einer Unterhaltung
nicht würdigte, eine Stunde und länger steil und beschwerlich
gestiegen war, immer höher und höher in die Felswildnis des Generoso
hinein, hatte er plötzlich die Alpe von Santa Croce auf fünfzig
Schritt vor Augen liegen.

Er wollte nicht glauben, daß jener Steinhaufen und das inmitten davon
befindliche, ohne Mörtel aus flachen Steintafeln geschichtete
Mauerwerk, wie ihn der Führer versichert hatte, das gesuchte Anwesen
sei. Was er erwartet hatte, war, nach dem Reden des Sindaco, eine
gewisse Wohlhabenheit, wogegen diese Behausung höchstens als eine Art
Unterschlupf für Schafe und Ziegen bei plötzlichem Unwetter gelten
konnte. Da es auf einer steilen Halde von Gesteinschutt und kantigen
Felsblöcken lag und der Pfad dahin in seinem Zickzacklaufe verborgen
war, schien der verfluchte Ort ohne Zugänge. Erst nachdem der junge
Priester sein Befremden und einen gewissen Schauder, der sich meldete,
überwunden hatte und näher gedrungen war, gestaltete sich das Bild der
verfemten und gemiedenen Wohnstätte etwas freundlicher.

Ja, die Trümmerstätte verwandelte sich sogar vor den Augen des
näherkommenden Priesters in eitel Lieblichkeit: denn es schien, als
würde die aus großer Höhe losgelöste Lawine von Blöcken und Schutt
durch den rohgemauerten Würfel der Wohnstätte aufgestaut und
festgehalten, so daß unter ihm eine steinfreie, saftig begrünte Lehne
blieb, aus der in entzückender Fülle und holdester Lieblichkeit gelbe
Kuhblumen bis an die Rampe vor die Haustüre hinankletterten -- und als
wären sie neugierig, über die Rampe hinweg und buchstäblich durch die
Haustür in die verfemte Wohnhöhle hinein.

Bei diesem Anblick stutzte Francesco. Dieser Sturmlauf von gelben
Wiesenblumen gegen die verrufene Schwelle hinauf, dieses Hinanblühen
üppiger Prozessionen langgestielter Vergißmeinnicht, unter denen Adern
von Bergwasser versickerten, und die ebenfalls mit ihrem blauen
Abglanz des Himmels die Tür zu erobern suchten, schien ihm beinahe
ein offener Protest gegen Acht, Bann und Femgerichte der Menschen zu
sein. Francesco mußte sich in seinem Staunen, dem eine gewisse
Verwirrung folgte, mit seiner schwarzen Soutane auf einen von der
Sonne gewärmten Gesteinsblock niedersetzen. Er hatte seine Jugend im
Tal und dazu meist in geschlossenen Räumen, Kirchen, Hörsälen oder
Studierzimmern zugebracht. Sein Natursinn war nicht geweckt worden.
Eine Unternehmung, wie diese, in die erhabene, herbe Lieblichkeit des
Hochgebirges hinein, hatte er niemals bisher ausgeführt und würde es
vielleicht niemals getan haben, hätte nicht Zufall und Pflicht vereint
ihm die Bergfahrt aufgedrängt. Nun überwältigte ihn die Neuheit und
die Größe der Eindrücke.

Zum ersten Mal fühlte der junge Priester Francesco Vela eine klare und
ganz große Empfindung von Dasein durch sich hinbrausen, die ihn
augenblicklang vergessen ließ, daß er ein Priester und weshalb er
gekommen war. Alle seine Begriffe von Frömmigkeit, die mit einer Menge
von kirchlichen Regeln und Dogmen verflochten waren, hatte diese
Empfindung nicht nur verdrängt, sondern ausgelöscht. Er vergaß jetzt
sogar, das Kreuz zu schlagen. Unter ihm lag das schöne Luganer Gebiet
der oberitalienischen Alpenwelt, lag Sant Agatha mit dem
Wallfahrtskirchlein, über dem noch immer die braunen Fischräuber
kreisten, lag der Berg San Giorgio, tauchte die Spitze des Monte San
Salvatore auf, und endlich lag in schwindelerregender Tiefe unter ihm,
in die Täler des

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