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weinende Beichte des Weibes wie
ein Gewebe von Lügen ansehen, wenigstens soweit das Verbrechen in
Frage kam. Freilich fühlte er, es gab Handlungen, die jedem
Bekenntnis vor Menschen unbedingt widerstreben und die nur Gott allein
in einsamer Stille des Gebetes erfährt. Er achtete in dem verkommenen
Weibe diese Schamhaftigkeit und konnte sich überhaupt nicht verhehlen,
daß sie in mancher Beziehung höher als ihr Bruder geartet war. In der
Art ihrer Rechtfertigung lag eine klare Entschlossenheit. Das Auge
gestand, aber ein Geständnis durch Worte würden ihr weder gutes
Zureden, noch glühende Zangen des Henkers entrissen haben. Sie war es
gewesen, wie sich ergab, die den Mann zu Francesco gesandt hatte. Sie
hatte den jungen, bleichen Priester gesehen, als sie eines Tages nach
Lugano zum Markte ging, wo sie die Erzeugnisse ihrer Alm verhandelte,
und sie hatte bei seinem Anblick Vertrauen und den Gedanken gefaßt,
ihm ihre verfemten Kinder ans Herz zu legen. Sie allein war das
Familienhaupt und trug die Sorge für Bruder und Kinder.
»Ich lasse es unerörtert,« sagte Francesco, »inwieweit Ihr schuldig
oder unschuldig seid. Eines steht fest: wenn Ihr Eure Kinder nicht wie
Tiere aufwachsen lassen wollt, so müßt Ihr Euch von dem Bruder
trennen. Solange Ihr mit ihm lebt, wird der furchtbare Leumund, den
Ihr habt, niemals zum Schweigen zu bringen sein. Immer wird man die
schreckliche Sünde bei Euch voraussetzen.«
Nach diesen Worten schien Verstockung und Trotz im Gemüte des Weibes
herrschend zu werden, jedenfalls gab sie keine Antwort und widmete
sich so, als ob kein Fremder zugegen wäre, eine längere Weile
häuslicher Tätigkeit. Währenddessen kam ein etwa fünfzehnjähriges
Mädchen herein, das einige Ziegen in die Öffnung des Stalles trieb und
sich alsdann, ebenfalls als wenn Francesco nicht da wäre, an der
Arbeit des Weibes beteiligte. Der junge Priester wußte sofort, als er
nur erst den Schatten des Mädchens durch die Tiefe der Höhle gleiten
sah, daß es von ungewöhnlicher Schönheit sein mußte. Er bekreuzte
sich, denn er hatte einen leisen Schrecken unerklärlicher Art im
Körper gespürt. Er wußte nicht, ob er in Gegenwart der jugendlichen
Hirtin seine Ermahnungen wieder aufnehmen sollte. Zwar war sie, wie
nicht zu bezweifeln war, von Grund aus verderbt, da Satan sie auf dem
Wege der schwärzesten Sünde zum Leben erweckt hatte, aber es konnte
doch noch ein Rest von Reinheit in ihr sein, und wer mochte wissen, ob
sie von ihrem schwarzen Ursprung eine Ahnung hatte.
Ihre Bewegungen zeigten jedenfalls eine große Gelassenheit, aus der
man keineswegs auf Unruhe des Gemütes oder Gewissensbeschwernis
schließen konnte. Im Gegenteil war alles an ihr von einer
bescheidenen Selbstsicherheit, die durch das Dasein des Pfarrers nicht
berührt wurde. Sie hatte Francesco bis jetzt nicht mit einem Blicke
gestreift, wenigstens nicht so, daß er ihrem Auge begegnet wäre oder
sie sonstwie ertappt hätte. Ja, während er selbst sie verstohlen durch
die Brille beobachtete, mußte er mehr und mehr in Zweifel ziehen, ob
wirklich ein Kind der Sünde, ein Kind solcher Eltern von dieser
Beschaffenheit sein könnte. Endlich verschwand sie über eine
Steigeleiter in eine Art Dachgelaß hinauf, so daß nun Francesco sein
mühsames Seelsorgerwerk fortsetzen konnte.
»Ich kann meinen Bruder nicht verlassen,« sagte die Frau, »und zwar
ganz einfach deshalb, weil er ohne mich hilflos ist. Er kann zur Not
seinen Namen schreiben, und ich habe ihm das nur mit der größten Mühe
beigebracht. Er kennt keine Münze, und vor der Eisenbahn, der Stadt
und den Menschen fürchtet er sich. Wenn ich fortgehe, wird er mich
verfolgen, wie ein armer Hund seinen verlorenen Herrn verfolgt. Er
wird mich entweder finden oder elend zugrunde gehen: und was soll dann
aus den Kindern und unserem Besitztum werden. Bleibe ich mit den
Kindern hier, so wollte ich den wohl sehen, dem es gelänge, meinen
Bruder fortzuschaffen: man müßte ihn denn in Ketten tun und hinter
Eisenstangen in Mailand einschließen.«
Der Priester sagte: »Dies kann sich am Ende noch ereignen, wenn Ihr
meinem guten Rate nicht folgen wollt.«
Da gingen die Ängste des Weibes in Wut über. Sie habe ihren Bruder zu
Francesco geschickt, damit er sich ihrer erbarme, aber nicht deshalb,
damit er sie unglücklich mache. Es sei ihr dann schon lieber, von
denen da unten gehaßt und ausgestoßen weiter zu leben, wie bisher. Sie
sei eine gute Katholikin, aber wen die Kirche ausstoße, der habe ein
Recht, sich dem Teufel anheimzugeben. Und was sie bisher noch nicht
getan habe, die große, ihr zur Last gelegte Sünde, werde sie dann
vielleicht erst tun.
In diese mit einzelnen Schreien gemischten, gepreßten Worte der Frau
hörte Francesco von dort, wo das Mädchen verschwunden war, von oben her,
immer einen süßen Gesang bald im leisesten Hauch, bald stärker
schwellend hineinklingen: so daß seine Seele mehr in diesem melodischen
Banne, als bei den Wutausbrüchen des verkommenen Weibes war. Und eine
Welle stieg heiß in ihm, verbunden mit einer Bangigkeit, wie er sie nie
gefühlt hatte. Das qualmige Loch dieses tierisch-menschlichen
Wohnstalles schien, wie durch Zauberei, in die lieblichste aller
kristallenen Grotten des Danteschen Paradieses verwandelt zu
sein: -- voll Engelstimmen und lachtaubenartig klingender Fittiche.
Er ging. Es war ihm unmöglich, noch länger, ohne sichtbar zu beben,
solchen verwirrenden Einflüssen standzuhalten. Draußen, vor dem
ausgehöhlten Steinhaufen angelangt, sog er die Frische der Bergluft
ein und ward sogleich, wie ein leeres Gefäß, mit dem ungeheuren
Eindruck der Bergwelt angefüllt. Seine Seele ward gleichsam in die
weiteste Kraft des Auges verlegt und bestand aus den kolossalen Massen
der Erdrinde, von fernen, schneeichten Spitzen zu nahen, furchtbaren
Abgründen, unter der königlichen Helle des Frühlingstags. Noch immer
sah er braune Fischadler überm Zuckerhut von Sant Agatha ihre
selbstvergessenen Kreise ziehn. Da verfiel er darauf, der verfemten
Familie dort einen heimlichen Gottesdienst abzuhalten und eröffnete
diesen Gedanken der Frau, die kummervoll auf die vom gelben Löwenzahn
umwucherte Schwelle der Höhle getreten war. »Nach Soana dürft Ihr
nicht kommen, wie Ihr ja selber wißt,« sagte er, »würde ich Euch dazu
einladen, ich und Ihr, wir würden gleich übel beraten sein.«
Wiederum ward das Weib bis zu Tränen gerührt und versprach, sich an
einem bestimmten Tage mit dem Bruder und den älteren Kindern vor der
Kapelle von Sant Agatha einzufinden.
* * * * *
Als der junge Priester soweit aus dem Bereich der Wohnstätte Luchino
Scarabotas und seiner fluchbeladenen Familie war, daß er von dort aus
nicht mehr gesehen werden konnte, wählte er einen von der Sonne
durchwärmten Block zum Ruheplatz, um über das eben Erlebte
nachzudenken. Er sagte sich, daß er zwar mit einem schauerlichen
Interesse, aber doch pflichtmäßig nüchternen Sinnes und