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Herrmann Salomon. Sie hatte Recht gehabt: keine Enkelkinder, keine Nichten und Neffen mit Kindern. Überhaupt keine Kinder. Nicht mal ihre eigenen Kinder waren auf dieser Karte Kinder. Die Namen der Absender waren wie ein Dreieck angeordnet und bildeten auf Grund der unterschiedlichen Länge der einzelnen Wörter eine alberne Formation, die aussah wie Buchstaben, die im Kranichflug noch ihren endgültigen Standort anfliegen müssen. Dreimal las ich den Text. Beim ersten Mal begriff mein Gehirn die Tatsache, dass Beatrice Bürger nun tot ist. Es war eine Mitteilung, eine Information, die sich langsam vom Kopf hinunterarbeitet bis in die Tiefen meiner Seele. Es war die kühle, unnahbare Sachlichkeit mit der ich über den Tod meiner besten Freundin unterrichtet wurde, die mich im ersten Augenblick mehr erschauern ließ als die Tatsache selbst. Natürlich hatte ich es gewusst. Vor drei Tagen hatte mich Rainer Bürger angerufen und mir in kurzen Sätzen mitgeteilt, dass Beatrice am Abend zuvor gestorben sei. Sonst nichts. Er hatte nicht mehr zu sagen und ich hatte nicht gefragt. Das Leben ausgelöscht in einem einzigen Hauptsatz. Keine Nebensätze, keine Geschichte, keine geteilte Erinnerung. Meine Hoffnung wir würden uns noch einmal sehen, rutschte an den Fundort verpasster Gelegenheiten tief in mir drin. Irgendwann würde ich den Mut haben, dort nachzusehen, um mir Rede und Antwort zu stehen. Aber nicht heute. Ich hatte gehofft, so wie man immer hofft, dass dies noch nicht das letzte Mal gewesen ist. Aber Beatrices Mut sich der Gegenwart zu stellen war mit jedem Tag kleiner geworden. Es schien, als hätte sie einen dicken Schutzwall aus Vergessen um ihre eigene kleine Welt gebaut. Die Bilder und Worte der Gegenwart drangen nicht mehr zu ihr durch. Am Ende schaffte sie es nur noch selten, das Schlupfloch für einen kleinen Ausflug ins Heute zu finden. Es waren Rainer Bürger und Kathrin Salomon geb. Bürger gewesen, die versucht hatten, sie aus ihrer heilen Welt zu holen, um sie in einem Pflegeheim unterzubringen. Doch die Sorge und Liebe zu ihren Vierbeinern blieb real und so widersetzte sie sich bis zum Schluss.
Ich las den Text ein drittes Mal. Doch er blieb was er war: die Mitteilung eines Beobachters, der den Wert eines ganzen Lebens mitsamt der Persönlichkeit in diese fünf Zeilen zwängte. Mehr hatte er zu dem Vorfall nicht zu sagen. Kein Abschied, keine Trauer, keine Mutter die fehlen wird. Das persönlichste an dieser Post war die handgeschriebene Adresse auf dem Umschlag. Ich blickte auf die weiße Gischt, die gegen die Felsen schlug und musste an unseren ersten gemeinsamen Seeurlaub denken. Wir waren die widersprüchlichsten Freundinnen und missachteten alle Regeln einer Zeit, die versuchte durch die klare Trennung von wahr und falsch, von erlaubt und unerlaubt, von möglich und unmöglich eine neue Ordnung herzustellen. Beatrices Eltern hatten ein gutgehendes Juweliergeschäft und litten damals kaum unter den Auswirkungen des Krieges. Obwohl sie selber drei Kinder hatten, nahmen sie mich als viertes Kind mit und so erlebte ich als einzige in meiner Familie schon mit elf Jahren meinen ersten Urlaub. Wir sprangen Hand in Hand in die Wellen der Ostsee und holten unbeschwertes Lachen nach, das unseren frühen Kindertagen oft gefehlt hatte. Meine Familie bestand aus fünf Mädchen und einer Mutter. Mein Vater schaute mich als junger Mann von dieser Fotografie lächelnd an, die neben dem Bett meiner Mutter in einem abgenutzten goldenen Bilderrahmen immer schwächer an ihn erinnerte. Er starb vor meiner Geburt. Ein Unfall an seinem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub , in dem ich zur Welt kommen sollte. Ich kam trotzdem und so musste meine Mutter das Wunder, fünf Mädchen an Hitler vorbei, über Kriegsfelder und schneller als Hunger und Krankheit in eine ungewisse Zukunft zu führen, alleine vollbringen. Wir legten einen weiten Weg zurück, doch sie schaffte es und als wir in unseren Heimatort zurück kehrten waren wir immer noch fünf Mädchen mit eigenen Träumen und einer Mutter.
Als Jüngste hatte ich das große Glück, das Gymnasium besuchen zu dürfen. Meine älteren Schwestern arbeiteten für mein Schulgeld und so lernten wir uns kennen. Beatrice Bürger, die den kleinen schmächtigen Hans vor den vernichtenden Hänseleien unseres Lehrers rettete, und Martha Augustin. Sie war damals aufgesprungen und hatte gewagt, unseren Erdkundelehrer als gemeinen Sadisten zu bezeichnen. Natürlich blieb ihr Eingreifen nicht ungestraft, doch entweder war Manfred Zippig so überrascht, dass es ihm die Phantasie für eine harte Strafe verschlug oder er hatte zu großen Respekt vor Beatrices Herkunft. Ihren Eltern gehörte das große Juweliergeschäft in der Nachbarstadt. Es war genau dieser Moment, der zusammenfasste was ich längst wusste, dass ich nie wieder eine bessere beste Freundin finden würde. Beatrice gehörte zu den Menschen, die sich vom Leben nicht einschüchtern ließen. Während ich vorsichtig jeden Schritt gut überlegte, marschierte sie ungebremst mitten hinein. Wie in die Wellen der Ostsee. Was falsch schien wurde geändert. Wer am Rand stand wurde in die Mitte geholt. Energisch griff sie nach der Freude und war glücklich, wenn sie ein kleines Büschel in Händen hielt. Wir vergaßen die Pflicht und schnitten Schlupflöcher in das Netz aus Gehorsam, Tugendhaftigkeit und Angst. Wir ließen die Kegel tanzen und verließen uns darauf, dass Beatrices Mutter unsere Hausaufgaben erledigte. In zwei verschiedenen Versionen. Wir standen in dem Geschäft ihrer Eltern und verdienten uns den nächsten Kinobesuch. Es war Beatrice, die mir half, eine Jugend zu haben. Eine Jugend mit schönen, lustigen Bildern, die es wert waren sich zu erinnern und die die blutigen überstrahlten. Es kam die erste Liebe und die letzte. Wir änderten beide unsere Nachnamen und blieben Freundinnen.
„Großzügig in der Sparsamkeit, leger in der Verbissenheit, nichts Halbes nur Ganzes.“ Ich lese die Zeilen auf dem Papier vor mir, aber ich finde in Ihnen meine Freundin nicht. Da steht nichts von ihrem Mut, für Dinge einzustehen, die ihr wichtig waren. Ich suche vergebens ihre unermessliche Liebe für die Menschen, die ihr nahe waren und ich erkenne nicht den fröhlichen und starken Menschen, der immer wieder dem Leben die Tür öffnete, auch wenn ein Sturm sie zugeschlagen hatte. Aber vor allem fehlt der Teil meiner Freundin, der löwenstark ihre Kinder vor gesellschaftlichen Zwängen, altmodischen Werten und queren Moralvorstellungen bewahrt hat. Mit 18 Jahren verliebte sich Rainer in eine 20 Jahre ältere verheiratete Frau. Die Bewohner der teuren und gepflegten Nachbarhäuser rümpften ihre moralischen Nasen und mieden fortan die Gesellschaft der Familie Bürger. Beatrice finanzierte den Liebenden eine kleine Wohnung und ließ Rainer diesen Weg probieren. Als der Alltag immer größer und die Liebe immer kleiner wurde, hob sie die zerbrochenen Teile seiner Seele auf und half ihm, sie wieder zusammen zusetzen. Sie stand damals in meiner Küche und fragte mich: „Wie kann ich helfen, dass ihn der Schmerz nicht argwöhnisch gegenüber der Liebe macht?“ Ich wusste es nicht.
Als Kathrin nach 24 elterlich finanzierten Semestern ihr Jurastudium abbrach, um Architektin zu werden, nahm Kathrins Vater Wut und Enttäuschung mit in die Nächte und als seine Frau nicht nachgab und die Tochter weiter unterstützte, suchte er Verständnis und Hingabe bei seiner kinderlosen Angestellten. In ihrem 28. Ehejahr fraß ein Tumor erst seine linke Niere und dann ganz allmählich alle anderen Organe auf. Beatrice pflegte ihn mit liebevoller Achtung. Am Ende siegte dann doch die Krankheit. In der Liebe gab es für sie nichts Halbes, nur Ganzes. Nach dem Tod ihres Mannes blieb sie alleine mit allen Vierbeinern in dem großen Haus, das zwanzig Jahre ihr Zuhause gewesen war. Damals waren Rainer und Kathrin noch ihre Kinder und versuchten sie zum Verkauf zu überreden. Beide hatten ihre nächsten Zukunftsschritte mit diesem Geld geplant. Beatrice blieb. Wut und Enttäuschung ließ sie vergessen, dass sie Kinder waren und sie gingen für immer.
Und dann als die Vergangenheit größer wurde als die Gegenwart versuchte sie tapfer, alleine weiter zu gehen. Sie fing nicht an zu vergessen. Sie baute einen Schutzwall um ihre kleine Welt, damit der Schmerz sie nicht argwöhnisch machte gegen die Liebe. Sie hatte die Antwort auf ihre Frage gefunden. Mein Stift flog ohne Pause über die leeren Blätter vor mir und am Ende hatte ich einen drei Seiten langen Brief an Rainer Bürger und Kathrin Salomon geb. Bürger geschrieben. Doch abgeschickt habe ich ihn nie. Mit ihrem Lachen und ihrer Stimme in meinem Kopf springe ich heute ohne Beatrice in die Wellen und rufe jedes Mal lachend ihren Namen. Wie könnte ich sie erklären? Welch ein gemeiner Verrat wäre das an unserer Liebe, die uns ein Leben lang vor dem Schmerz beschützt hat, damit wir nicht argwöhnisch werden und vergessen.