Acht Stück' Bienenstich

Bild von Lena Kelm
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Am noch kühlen Morgen eines angekündigten heißen Tages
kehre ich, nach dem Blumengießen am Grab meiner lieben
Mutter, in eine Bäckerei in der Neuköllner Karl-Marx-Straße
ein. Ein Steh-Café, nicht das beste und auch kein EINSTEIN.
Mein Kreislauf signalisiert: Kaffee, Kaffee, Kaffee! Um ihn in
Schwung zu bringen, reicht es allemal. Die Verkäuferinnen
sind nett, was will man mehr! Naja, etwas Atmosphäre
vielleicht.

Wie laut es hier ist! Fällt ein Handy-Gespräch unter die Kategorie
Lärm- oder Umweltbelastung? Der Lärm kommt von der offenen
Tür, davor steht ein Paar. Sie – etwas mollig, schwarzes
Spitzentuch am Dutt, schwarzweiß gestreifter Pullover zum
knöchellangen schwarzen Rock, Netzpantoletten mit
Glitzerblümchen – telefoniert. Wer hat bloß Flip-Flops für die
Straße erfunden? Der Mann neben ihr – kleinwüchsig wie sie,
im weißen Hemd, schwarzer Hose, dicker Goldkette um den
kurzen Hals, die Füße in Lackschuhen – steht schweigend da,
mit einer Perlenkette spielend, während die Frau lautstark
in ihr Handy schimpft. So hört es sich zumindest an, verstehen
kann ich sie nicht. Sie spricht nicht deutsch, auch nicht polnisch,
weder bulgarisch noch serbisch, vielleicht rumänisch?
Plötzlich schreit sie: „Scheiße!“ Schon fällt mir meine Bekannte
aus Russland ein, die, als sie in den 90ern ihre Verwandten in
Berlin besuchte, mir ironisch ihre Eindrücke schilderte. Das Beste
war, meinte sie, dass sie zwei deutsche Begriffe gelernt hatte:
Geschenk und Scheiße.

Die Frau vor der Tür übertönt jedes vorbeifahrende Auto.
Hoffentlich hört sie bald auf, ich bestelle schon mal Kaffee.
Die Frau am Nebentisch schüttelt unmissverständlich den Kopf.
Wie versteht bloß die Verkäuferin die Kunden bei diesem Lärm?
Da kommt ein großer Mann herein im Unterhemd, kurzer Turnhose
und Badelatschen, typisch Neuköllner Alltagslook, Drei-Tage-Bart,
schütteres Haar, grau im Gesicht. Er strengt sich an, um die Frau
vor der Tür zu übertönen. Ungepflegt, denke ich, schade. Ein
Drei-Tage-Bart kann schön sein, wenn ein Mann das gewisse
Etwas hat. Wenn er mich zum Beispiel an der Ampel nicht schubst
und hinzufügt: „Na, schläfst wohl, Dicke, grüner wird’s nicht!“

Zurück zu dem Mann, für den die Verkäuferin gerade den Kuchen
sorgsam verpackt. Sie reicht ihm Kaffee, der Mann stellt ihn auf
einen freien Tisch ab und holt sein Handy aus der Hosentasche.
Es sieht neu und modern aus im Gegensatz zu meinem aus der
Steinzeit. Während ich das tolle Handy bewundere und überlege,
wieso ich nie Geld für ein neues habe, telefoniert er.
„Hi, ich bin’s, hab‘ acht Stück‘ Bienenstich gekauft und Schlagsahne,
trinke jetzt einen Kaffee in Ruhe, bin in einer halben Stunde bei dir,
bis denne!“
Kurz und sachlich, ein Mann, ein Wort! Nicht wie die laute Frau
vor der Tür. Sie macht Anstalten zu gehen. Doch mein Stoßgebet
wird nicht erhört. Die Frau bleibt stehen und brüllt nun ins
Handy. Der Mann mit den acht Stücken Bienenstich telefoniert
erneut.
„Na, du Zuckerärschchen, bist du schon wach? Komm nach
Kreuzberg, in einer halben Stunde bin ich da, habe acht Stück‘
Bienenstich mit Schlagsahne gekauft. Was macht das Pferd?
Ach, du Sch…! Gibt Schlimmeres! Ich geh‘ jetzt nach Kreuzberg,
trink nur noch meinen Kaffee.“
Zum Kaffeetrinken kommt er nicht. Ich frage mich, wie dieser
Mann es schaffen will, die Schlagsahne auf einem Pappteller
Zu transportieren. Und wie will er in dreißig Minuten in Kreuzberg
sein, wenn er die ganze Zeit telefoniert?

Ich habe genug, auch vom Geschrei, und will gehen, in dem
Moment kommt eine Frau herein in einem langen schwarzen
Mantel in Begleitung eines kleinen Jungen, ihr Handy klemmt
zwischen Ohr und Kopftuch. Sie telefoniert auf Türkisch und
bestellt nebenbei zwanzig Schrippen.
„Tamam, tamam...!“, höre ich. Die Verkäuferin wartet geduldig,
solange die Kundin im Portemonnaie nach Silber kramt und
seelenruhig telefoniert. Auch der Mann mit der Schlagsahne
telefoniert.
„Du Arsch, komme jetzt nach Kreuzberg, hab‘
acht Stück‘ Bienenstich und Schlagsahne.“
Russisch vermisse ich noch in diesem gemischten Chor. Meine
ehemaligen russischen Landsleute sprechen auch nicht gerade
leise in der Öffentlichkeit, mich regt das auf.

Ich bedanke mich für den Kaffee bei der geplagten Verkäuferin.
Sie muss den Wahnsinn aushalten. Und gehe zugleich mit der
Türkin. Das Paar verschwindet in der U-Bahn-Station. Ich habe
meinen Kreislauf in Schwung gebracht. Was will ich mehr!

Veröffentlicht / Quelle: 
Im Prinzip gibt es alles - Erzählungen
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