Gefährlicher Sommer (Teil 6) - Page 3

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von Annelie Kelch

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wollte, aber er konnte niemandem etwas zu Leide tun. Er war mit allen Menschen auf dem Hof und im Dorf gut ausgekommen, sogar mit dem verstorbenen Guts­herrn. Knut war nicht nur sein Hofverwalter, son­dern auch sein bester Freund ge­wesen – obwohl Herr Brandner ein leiden­schaftlicher Jä­ger war, ein wahrer Nimrod, während Knut nie im Leben eine Waffe angerührt hätte. Hat Tante Agnes dir eigentlich geschrieben, dass Hof Lachau einen neu­en Gutsverwalter hat? – „Axel Kröger" heißt dieser unfreund­liche Mensch, der es offenbar nicht für nötig hält, sich um den Hühnerstall zu kümmern und eine Ex­traeinladung braucht. Die Gnädigste lässt ihn übrigens im Jagdzimmer hausen. Wir haben uns letztes Jahr in diesem gefährlichen Gefilde umgeschaut. Du erinnerst dich gewiss noch an die vielen Jagd­gewehre hinter den verglasten Türen der hohen Waffenschränke und an die Ge­weihe und Hörner, die an den Wänden befestigt sind und weit ins Zimmer hinein ragen. Horrido! – Kein Auge bekäme ich dort zu.

Nach dem Mittagessen verbrachte ich eine Weile bei Opa in der Laube, die mittlerweile bis zur Hälfte mit dichtem Efeu zugewachsen ist, der selbst die inneren Backsteinwände bedeckt. Es war unerträglich heiß, und ich teile keinesfalls Oma Anitas Meinung, dass uns das grüne Zeug vor der heißen Mittagssonne schützt. Außerdem schwirren dort jede Menge fieser Insekten umher. Oma hat neulich sogar Blattläuse unter dem Spitzenkragen ihrer „entzüc­kenden“ neuen Som­merbluse entdeckt.
Derweil ich mit Opa in der Laube saß und das üppige Mittagsmahl sacken ließ, zeigte er sich endlich ein wenig gesprächiger, was Knut anbelangt. Man hätte meinen alten Freund, den treuen Verwalter, hinterrücks, aus allernächster Nähe er­mordet. Knut wollte wie an jedem Freitagvor­mittag in den Wald, um den Geschöpfen der Wildnis, wie er die Rehe, Hirsche und Wildschweine lie­bevoll nannte, beim Äsen zuzuschauen. Er sei über drei Lichtungen gewandert, immer gen Osten, sagt Opa. Schließ­lich soll er sich auf einem der Hochsitze niederge­lassen haben – vermutlich, um sich auszuruhen. Der Dorfpolizist ent­deckte Knut am darauf folgen­den Tag, nachdem Leni, die ihn als Erste vermiss­te, die Gendarmerie ver­ständigt hatte. Knut lag in einer Blutlache neben der Jagdkanzel. Ist das nicht schrecklich? Mich schaudert bei diesem entsetzlichen Gedan­ken. Der Feldstecher habe noch um seinen Hals gehangen, berichtete Opa mit zittern­der Stimme.
Die kriminaltechnischen Er­mittlungen hätten ergeben, dass auf „den Gutsin­spektor vom Lachauer Hof“ drei Schüsse abgefeuert wurden, aus sehr kurzer Distanz, was auch immer das heißen mag, liebe Christine. Jedenfalls war das nie und nimmer ein Unfall. Die Kugeln trafen Knut geradewegs in den Rücken, zwischen Genick und rechtem Schul­terblatt. Er sei auf der Stelle vom Hochsitz hinunter und auf den Waldboden gestürzt. – Bereits der erste Schuss sei tödlich gewesen. Das Opfer habe sofort das Be­wusstsein verloren und sei kurz darauf an inneren Blutungen verstorben, soll im Untersuchungsbe­richt der Ge­richtsmediziner vermerkt sein.
Und vom Täter nicht die geringste Spur! Die Kri­po Lübeck habe weder einen Verdacht noch den geringsten Hinweis. Aber was noch seltsamer ist: Es gibt weit und breit kein Motiv. Die Fahnder seien ratlos und wüssten nicht, in welche Rich­tung sie die Ermittlungen ein­schlagen sollen.

Es heißt, die tödlichen Kugeln seien aus einer einschüssigen Kipplaufpistole abgefeu­ert wor­den. Das würde bedeuten, dass der Mörder mindestens dreimal hat nachgeladen müssen. Wieviel Patronen die Beamten im Wald gefunden haben, wusste Opa nicht. Merkwürdig ist auch, dass die Tatwaffe aus den Ver­einigten Staaten stammen soll. Es handele sich um eine Fangschusswaffe, eine Con­tender, die eigentlich nur bei der Jagd auf schweres Schalenwild eingesetzt wird. Die Kripobeamten seien überzeugt davon, dass Knut ganz gezielt und aus dem Hin­terhalt getötet wurde. Der Täter habe den arglosen, unbewaffneten Mann aus nächster Nähe erschossen. Knut sei regelrecht hingerich­tet worden. Vielleicht hat Knut seinen Mörder sogar ge­kannt. Vielleicht befand er sich bereits auf der Flucht und war gerade im Be­griff, vom offenen Hochsitz zu klettern, der ihm keinerlei Schutz bot. Wer glaubst du, liebe Christine, steckt hinter dieser ge­meinen Tat? Wilderer, Holz­frevler oder gar je­mand aus dem Dorf? Und vor allem: Wie lautet das Motiv ...?
Aber wahr­scheinlich bist du über das schreckliche Ereignis längst informiert. Wie lange eigentlich schon? Ich kann mir überhaupt nicht vor­stellen, dass Tan­te Agnes in ihren Briefen an euch den schrecklichen Mord mit keiner Silbe er­wähnt hat. Bitte teile mir so schnell wie möglich mit, was du über Knuts Tod herausgefunden hast, was deine Eltern dazu sagen und wie Tante Agnes darüber denkt. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein, selbst wenn sie dir noch so nichtssagend vor­kommt. Ich habe mir nämlich vorgenommen, den Mörder zu finden, koste es, was es wolle.

Es ist wirklich jammerschade, dass du nicht hier sein kannst, Christine. Allein schon wegen der Kir­schen! Sie nahmen und nahmen kein Ende, und mir war mittlerweile ziemlich übel. Mich beschlich das ungute Gefühl, als schwankte die Lei­ter im Geäst hin und her, von schwachen Windböen angetrieben, die wahrscheinlich nur in meiner Phantasie existierten. Hinzu gesellte sich die Hitze, die von Stun­de zu Stunde qualvoller wurde. Sie wütete wie ein Brutofen unter dem dichten Laub. Ich hätte zu gern gewusst, wie Leni sich fühlte und riskierte einen Blick in ihre Richtung. Ihr Körper war bis zum Hals vom Geäst verborgen; ich sah le­diglich ihren weißen Dutt, das zum Himmel emporgereckte, gerötete Gesicht und ihre Arme, die mit einer nahezu gren­zenlosen Hingabe und wut­schnaubender Emsigkeit zwischen den Blättern umherwühlten, als sei für das Pflücken ein Preis ausge­setzt. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht aufzugeben. Mein Arm war vor Schmerzen fast taub. Am liebsten wäre ich von der Leiter ge­klettert und zum Baden gefahren; aber die ständigen Gedanken an Knut lenkten mich von meinem Vorhaben ab und versetzten mich in eine Art Trance­zustand. Des­halb bekam ich auch nicht mit, dass jemand unterm Kirschbaum stand und meine Aufmerksam­keit verlangte.
„Hallo, ich bin die Kora“, drang mit einem Mal eine ungeduldi­ge, helle Mädchenstimme an mein Ohr. „Die Kora“ muss­te schon eine ganze Weile unter dem Baum ausgeharrt haben.
„Weshalb brüllst du so, Kora? Wir sind ja schließlich nicht taub?“, grölte(!) Leni zu uns rüber.
„Katja hat mich doch nicht gehört“, ver­teidigte sich das Mädchen zaghaft. Katja? Das wird ja immer schöner, dachte

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Ich wollte den Roman eigentlich „Katjas Briefe" nennen; aus diesem Grund habe ich das Titelblatt (s. unten) erstellt. Jetzt fungiert es als Zwischenblatt; habe bereits ein neues Titelblatt entworfen und stelle es euch demnächst hier vor. Danke fürs geduldige Lesen. Es wird mit jedem Kapitel etwas spannender noch, Annelie

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