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wollte, aber er konnte niemandem etwas zu Leide tun. Er war mit allen Menschen auf dem Hof und im Dorf gut ausgekommen, sogar mit dem verstorbenen Gutsherrn. Knut war nicht nur sein Hofverwalter, sondern auch sein bester Freund gewesen – obwohl Herr Brandner ein leidenschaftlicher Jäger war, ein wahrer Nimrod, während Knut nie im Leben eine Waffe angerührt hätte. Hat Tante Agnes dir eigentlich geschrieben, dass Hof Lachau einen neuen Gutsverwalter hat? – „Axel Kröger" heißt dieser unfreundliche Mensch, der es offenbar nicht für nötig hält, sich um den Hühnerstall zu kümmern und eine Extraeinladung braucht. Die Gnädigste lässt ihn übrigens im Jagdzimmer hausen. Wir haben uns letztes Jahr in diesem gefährlichen Gefilde umgeschaut. Du erinnerst dich gewiss noch an die vielen Jagdgewehre hinter den verglasten Türen der hohen Waffenschränke und an die Geweihe und Hörner, die an den Wänden befestigt sind und weit ins Zimmer hinein ragen. Horrido! – Kein Auge bekäme ich dort zu.
Nach dem Mittagessen verbrachte ich eine Weile bei Opa in der Laube, die mittlerweile bis zur Hälfte mit dichtem Efeu zugewachsen ist, der selbst die inneren Backsteinwände bedeckt. Es war unerträglich heiß, und ich teile keinesfalls Oma Anitas Meinung, dass uns das grüne Zeug vor der heißen Mittagssonne schützt. Außerdem schwirren dort jede Menge fieser Insekten umher. Oma hat neulich sogar Blattläuse unter dem Spitzenkragen ihrer „entzückenden“ neuen Sommerbluse entdeckt.
Derweil ich mit Opa in der Laube saß und das üppige Mittagsmahl sacken ließ, zeigte er sich endlich ein wenig gesprächiger, was Knut anbelangt. Man hätte meinen alten Freund, den treuen Verwalter, hinterrücks, aus allernächster Nähe ermordet. Knut wollte wie an jedem Freitagvormittag in den Wald, um den Geschöpfen der Wildnis, wie er die Rehe, Hirsche und Wildschweine liebevoll nannte, beim Äsen zuzuschauen. Er sei über drei Lichtungen gewandert, immer gen Osten, sagt Opa. Schließlich soll er sich auf einem der Hochsitze niedergelassen haben – vermutlich, um sich auszuruhen. Der Dorfpolizist entdeckte Knut am darauf folgenden Tag, nachdem Leni, die ihn als Erste vermisste, die Gendarmerie verständigt hatte. Knut lag in einer Blutlache neben der Jagdkanzel. Ist das nicht schrecklich? Mich schaudert bei diesem entsetzlichen Gedanken. Der Feldstecher habe noch um seinen Hals gehangen, berichtete Opa mit zitternder Stimme.
Die kriminaltechnischen Ermittlungen hätten ergeben, dass auf „den Gutsinspektor vom Lachauer Hof“ drei Schüsse abgefeuert wurden, aus sehr kurzer Distanz, was auch immer das heißen mag, liebe Christine. Jedenfalls war das nie und nimmer ein Unfall. Die Kugeln trafen Knut geradewegs in den Rücken, zwischen Genick und rechtem Schulterblatt. Er sei auf der Stelle vom Hochsitz hinunter und auf den Waldboden gestürzt. – Bereits der erste Schuss sei tödlich gewesen. Das Opfer habe sofort das Bewusstsein verloren und sei kurz darauf an inneren Blutungen verstorben, soll im Untersuchungsbericht der Gerichtsmediziner vermerkt sein.
Und vom Täter nicht die geringste Spur! Die Kripo Lübeck habe weder einen Verdacht noch den geringsten Hinweis. Aber was noch seltsamer ist: Es gibt weit und breit kein Motiv. Die Fahnder seien ratlos und wüssten nicht, in welche Richtung sie die Ermittlungen einschlagen sollen.
Es heißt, die tödlichen Kugeln seien aus einer einschüssigen Kipplaufpistole abgefeuert worden. Das würde bedeuten, dass der Mörder mindestens dreimal hat nachgeladen müssen. Wieviel Patronen die Beamten im Wald gefunden haben, wusste Opa nicht. Merkwürdig ist auch, dass die Tatwaffe aus den Vereinigten Staaten stammen soll. Es handele sich um eine Fangschusswaffe, eine Contender, die eigentlich nur bei der Jagd auf schweres Schalenwild eingesetzt wird. Die Kripobeamten seien überzeugt davon, dass Knut ganz gezielt und aus dem Hinterhalt getötet wurde. Der Täter habe den arglosen, unbewaffneten Mann aus nächster Nähe erschossen. Knut sei regelrecht hingerichtet worden. Vielleicht hat Knut seinen Mörder sogar gekannt. Vielleicht befand er sich bereits auf der Flucht und war gerade im Begriff, vom offenen Hochsitz zu klettern, der ihm keinerlei Schutz bot. Wer glaubst du, liebe Christine, steckt hinter dieser gemeinen Tat? Wilderer, Holzfrevler oder gar jemand aus dem Dorf? Und vor allem: Wie lautet das Motiv ...?
Aber wahrscheinlich bist du über das schreckliche Ereignis längst informiert. Wie lange eigentlich schon? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Tante Agnes in ihren Briefen an euch den schrecklichen Mord mit keiner Silbe erwähnt hat. Bitte teile mir so schnell wie möglich mit, was du über Knuts Tod herausgefunden hast, was deine Eltern dazu sagen und wie Tante Agnes darüber denkt. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein, selbst wenn sie dir noch so nichtssagend vorkommt. Ich habe mir nämlich vorgenommen, den Mörder zu finden, koste es, was es wolle.
Es ist wirklich jammerschade, dass du nicht hier sein kannst, Christine. Allein schon wegen der Kirschen! Sie nahmen und nahmen kein Ende, und mir war mittlerweile ziemlich übel. Mich beschlich das ungute Gefühl, als schwankte die Leiter im Geäst hin und her, von schwachen Windböen angetrieben, die wahrscheinlich nur in meiner Phantasie existierten. Hinzu gesellte sich die Hitze, die von Stunde zu Stunde qualvoller wurde. Sie wütete wie ein Brutofen unter dem dichten Laub. Ich hätte zu gern gewusst, wie Leni sich fühlte und riskierte einen Blick in ihre Richtung. Ihr Körper war bis zum Hals vom Geäst verborgen; ich sah lediglich ihren weißen Dutt, das zum Himmel emporgereckte, gerötete Gesicht und ihre Arme, die mit einer nahezu grenzenlosen Hingabe und wutschnaubender Emsigkeit zwischen den Blättern umherwühlten, als sei für das Pflücken ein Preis ausgesetzt. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht aufzugeben. Mein Arm war vor Schmerzen fast taub. Am liebsten wäre ich von der Leiter geklettert und zum Baden gefahren; aber die ständigen Gedanken an Knut lenkten mich von meinem Vorhaben ab und versetzten mich in eine Art Trancezustand. Deshalb bekam ich auch nicht mit, dass jemand unterm Kirschbaum stand und meine Aufmerksamkeit verlangte.
„Hallo, ich bin die Kora“, drang mit einem Mal eine ungeduldige, helle Mädchenstimme an mein Ohr. „Die Kora“ musste schon eine ganze Weile unter dem Baum ausgeharrt haben.
„Weshalb brüllst du so, Kora? Wir sind ja schließlich nicht taub?“, grölte(!) Leni zu uns rüber.
„Katja hat mich doch nicht gehört“, verteidigte sich das Mädchen zaghaft. Katja? Das wird ja immer schöner, dachte
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Ich wollte den Roman eigentlich „Katjas Briefe" nennen; aus diesem Grund habe ich das Titelblatt (s. unten) erstellt. Jetzt fungiert es als Zwischenblatt; habe bereits ein neues Titelblatt entworfen und stelle es euch demnächst hier vor. Danke fürs geduldige Lesen. Es wird mit jedem Kapitel etwas spannender noch, Annelie