Gefährlicher Sommer (Teil 6) - Page 4

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von Annelie Kelch

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ich. Woher kennt dieses kesse Kind meinen Namen? Sollte Leni etwa geplaudert haben?
Es war das Herzchen aus der Clique, fiel mir dann ein, jene drei Geschöpfe, die mir gestern, als ich Leni vom Feld abholen wollte, den Weg versperrt hatten. Zu dieser Sippschaft gehören ihr Bruder Konny und Hannes Kröger, der Sohn vom neuen Gutsverwalter, Koras kesser Vetter. Hannes Kröger meinte, ich müsse in diesen Ferien wohl oder übel mit ihnen vorlieb nehmen, sofern ich etwas Spaßiges erleben wolle, weil sich die Pechmarie Stinetrine(!) ja das Bein gebrochen habe. Mich nannte er ein zwei­beiniges Exemplar der Gattung Trauerweide. Vermut­lich, weil ich ein Gesicht wie Drei-Tage-Regenwetter zog, nachdem ich kurz zuvor erfahren hatte, dass du es vorgezogen hast, die Ferien im Krankenhaus zu verbringen, treulose Christine. Der Kna­be ist jedenfalls ein ziemlicher Spinner und hat ein lockeres Mundwerk. Aber seit heute Morgen will ich gar keine lustigen Ferien mehr. Ich will eigentlich nur noch eines: dass der Mörder von Knut gefasst wird, und zwar mög­lichst umgehend.
Zurück zu Kora! Ich schaute ihr geradewegs ins Ge­sicht. Es stand nichts darin, was darauf schließen ließ, dass sie den Vor­fall von gestern bedauerte. Kein einziges Wort der Entschuldigung kam über ihre Lippen. Sie strahlte aus himmelblauen Augen unschuldig zu mir hoch und streckte mir ihre Hand entgegen.
„Katja Kleve, aber das weißt du ja wohl schon“, stieß ich durch meine zusammengepressten Lippen, kletterte die letzten Stufen der Leiter hinunter und schüttelte gnädig und absichtlich kräftig die dargebote­ne Rechte. Sie verzog das Gesicht.
„Bitte!“ Ich deutete nach oben in den Kirsch­baum „Du hast dich doch gestern so sehr aufs Pflücken gefreut. Dem steht nun nichts mehr im Wege. Du kannst sofort loslegen.“
Sie schluckte ein paar Mal, sah mich an, als wolle sie etwas klarstellen, und stieg, nach­dem sie an meinem Blick gescheitert war, schicksalsergeben die Leiter hinauf.
Ich war gerettet! Fast! Denn kaum, dass ich drei Schritte in Lenis Richtung getan hatte, sah ich den Rest der Clique auf mich zuschlen­dern. Hannes und sein Vetter be­grüßten mich, als seien wir gute alte Freun­de.
„Mich kennst du ja schon“, griente dieser unverschämte Hannes. „Und das ist mein Cousin Konrad." Er zeigte auf den Jungen neben sich. – „Du darfst ihn Konny nennen.“
„Ach ja?“, fragte ich gelangweilt.
Konny, blond und blau­äuig wie seine Schwester, mit Hermann-Hesse-Brille, zog hinter seinem Rücken ein Stieleis hervor. Es sah nach Erdbeere aus (hoffentlich war es nicht Kirsche; davon hatte ich nämlich die Nase gestrichen voll). Er hielt mir die kalte Verheißung buchstäblich unter die Nase, und ich witterte einen leichten Erdbeerduft.
„Hier, Katja, für dich!“
Seine Augen bettelten um Verzeihung.
Aha, dachte ich. Der einzige Mensch in diesem seltsamen Freun­deskreis mit einem Fünkchen von Anstand. Wie gut ich es doch hatte: Mor­gens Zuckerei mit Rotwein von Oma Anita und nachmittags Stieleis vom Feind. Ich bedankte mich ausge­sprochen freundlich, lächelte ihn an und nahm gnädig das Eis und die nicht aus­gesprochene Ent­schuldigung entgegen. Dann schlenderte ich davon, Richtung großes Gartentor. Ich spürte Hannes' Blicke auf meinem Rücken und stellte sie mir als boshafte Giftpfeile vor.

Opa saß immer noch in der Laube und döste vor sich hin. Ob er mit seinen Gedanken bei Knut weilte? Ich setzte mich neben ihn, und wir freuten uns über Tante Agnes' Hortensien, die in allen Regenbogenfarben zu uns herüberleuchte­ten. Die Ruhe war mir nicht vergönnt. Kaum, dass ich meine Augen geschlos­sen hatte, kam Leni angestapft. Sie stemmte die Arme in die Hüften und funkel­te mich wütend an.
„Also Katja, so geht das ja nun nicht ... das kannst du mit mir nicht machen. Mit mir nicht! Was man angefangen hat ...“
Opa zog bei Lenis Worten ein Gesicht, als wollte er heftig protestieren, schwieg je­doch und presste die Lippen zusammen.
„... sollte man möglichst auch zu Ende brin­gen“, ergänzte ich lachend.
„Sehr wahr, Katja“, betonte Leni. „Und das Wört­chen 'möglichst' darfst du in diesem Zusammenhang vergessen. Du bist ja so still, Edmund?!“
„Über solche Themen diskutiere ich nicht, jedenfalls nicht mit dir, Lene“, ließ Opa sie wissen (es hörte sich sehr würdevoll an). Er schloss die Augen.
„Pah“, machte Leni, nahm meinen Arm, und schleppte mich zurück in den Kirschgarten.
Ich sah mich suchend um. „Wo sind denn die beiden tatkräftigen Männer ge­blieben?“, fragte ich erstaunt.
„Diese trägen Nichtsnutze haben sich aus dem Staub gemacht“, wetterte Leni.
Wir schütte­ten die Kirschen aus den schweren Schüsseln in die große Blech­tonne, die wir auf dem Leiterwagen gelassen hatten. Kora half uns dabei. Sie hatte Saftflecken am Kinn, und ihr sonnengelber Baumwollpullover war mit dunkel­roten Flecken übersät.
„Na, deine Mutter wird sich freuen, wenn sie dich sieht“, feixte Leni.
„Halb so schlimm“, triumphierte Kora. „Das ist ein ganz alter Pulli und schlabbrig bis dorthinaus. Den wollten wir schon längst aussor­tieren.“
Leni kniff die Lippen zusam­men.
„Tschüss denn, und vielen Dank für die Kirschen“, rief Kora, drehte sich hastig um und preschte davon wie ein jun­ges Füllen. Leni erwiderte weder ihren Abschieds­gruß, noch kümmerte sie sich in irgendeiner Weise um Kora, die es plötzlich sehr eilig zu haben schien. Ich hätte drei von meinen Lieblings­büchern heraus­gerückt, wenn mir jemand er­klärt hätte, weshalb Leni so schlecht gelaunt war. Gottlob kam das höchst selten vor.
Schweigend zogen wir den Leiter­wagen durch den hinteren Haus­eingang in die etwas dunkle, aber herrlich kühle und geräumige Küche. Am Ende des mehr als vier Meter langen groben Holztisches, den Leni nach jeder Mahlzeit mit großer Inbrunst pflegt (und, wenn sie stinkwütend ist, wie eine Furie drauf herum­scheuert), saß eine junge Frau und blätterte in einem dicken Buch. Es handelte sich offenbar um ein medizini­sches Lexikon. Ich registrierte schwach den Aufbau irgendeines Bronchial­systems (hatten wir nämlich erst kürzlich in Bio, liebe Christine).
„Leni! Katja!“, rief die junge Frau, als sie uns erblickte. Sie sprang auf und um­armte Leni derma­ßen stürmisch, dass beide um ein Haar gestürzt wären.
„Mädelchen! Ja, habt ihr denn schon Semesterferien?“, staunte Leni mit strahlender Miene.
„Nein, du Gute. Ich hatte Sehnsucht nach euch allen und bleibe ein paar Tage hier“, stieß die junge Frau gerührt und atemlos hervor.
Allmählich dämmerte mir, wen ich vor mir hatte: Ulla Brand­ner, Studentin der Veterinärmedizin in Ham­burg und Tochter der Gnädigsten. Wir hatten zuletzt im Sommer vor drei Jahren das Vergnügen ...
„Katja, du bist ja mächtig gewachsen“, staunte Ulla und umarmte mich.
„Kein Wunder“, mischte sich Leni ein, die langsam aber sicher zu ihrer guten Laune zurückfand, „bei der Kraftbrü­he, die sie jeden Morgen von Anita kredenzt bekommt.“
Sie gab die Ge­schichte vom veredelten Zuckerei preis und Ulla lachte herzlich und sagte: „Schaden kann es ihr jedenfalls nicht, unser Federvieh ist gottlob sehr gesund; aber das Rotwein­trinken darf sie sich auf gar keinen Fall ange­wöhnen, zuviel Gläser da­von sind schäd­lich.“
„Kommt Helge auch zum Wochen­ende?“, wollte Leni wissen. Ulla runzelte die Stirn.
„Ich weiß es nicht, Leni. Ich habe Helge an Weihnachten zuletzt gesehen. Seither hat er weder geschrieben noch habe ich ihn telefonisch erreichen können. Weiß Mutter Näheres?“
Bevor Leni darauf erwidern konnte, betrat Frau Brandner die Küche. Sie war mit Mutti und Oma in Lübeck gewesen, Besor­gungen machen. So nennt man das wohl, wenn ein Modegeschäft nach dem anderen ab­klappert wird. Mutti weiß schon gar nicht mehr, wohin mit dem ganzen Zeug. Es ist jedes Mal dasselbe, liebe Christine: Wir kommen mit drei passablen Koffern an und fahren mit vier, fünf oder sechs vollgestopften Gepäckstücken wieder heim. Mutti kennt näm­lich ein preiswer­tes Lederwa­rengeschäft in Lübeck. Dort holt sie gegen En­de der Ferien Nach­schub. In un­serem Keller stapelt sich ein Batallion von Koffern: Riesenexemplare und klitzekleine, grüne, braune und schwarze, aus Pappe, Metall, Leder, Kunststoff und was sonst noch alles auf den Markt geworfen wird, nichts als Koffer in Hülle und Fülle.
„Ulla!“, rief Frau Brandner erstaunt. „Das ist aber eine gelungene Überra­schung!“ Sie küsste ihre Tochter auf die Wange.
„Ihr habt doch noch keine Se­mesterferien?“
„Nein, Mutter“, erklärte Ulla. „Ich bleibe nur ein paar Tage; ich hatte so großes Heimweh nach euch allen.“
„Fein, mein Kind. Du glaubst nicht, wie sehr ich mich darüber freue, dass du hier bist! Wo hast du denn geparkt? Ich habe dein Auto gar im Hof gesehen.“
„Es steht im Dorf bei Herrn Brückner. Er will sich die Bremsen anschauen. Sie funktionieren nicht mehr zuverlässig“, erwider­te Ulla.
„Gut, mein Kind. Dann wollen wir jetzt wir zu Abend essen. Leni und Katja sind herzlich eingeladen“, sagte Frau Brandner bestens gelaunt. Wir setzten uns an den blankgescheuerten, von zahlreichen Messerkerben verkrumpelten Tisch. Es gab Brot mit Schinken und zum Nachtisch leckere Erdbeergrütze mit Vanillesoße. Beides hatte Leni am frühen Morgen zubereitet. Frau Brandner und Ulla unterhielten sich über die bevorstehenden Ernte und dass das Heu un­bedingt gemäht werden müsse. Die Gutsherrin be­fürchtete, dass die Tiere bei diesem heißen Wetter Parasiten bekämen.
„Und im Kräutergarten droht das Unkraut die Oberhand zu ge­winnen“, stöhnte sie. Leni gab den neuesten Hüh­nerei-Rapport bekannt und teilte ihrer Chefin mit, dass Herr Kröger am Wochenende beabsichtige, sämt­liche beschädigten Wei­dezäune auf der Pferde­koppel zu reparieren.
„Und ich helfe Leni morgen beim Unkrautjäten“, ver­sprach ich Frau Brandner, obwohl ich eigentlich in den Wald wollte, um den schauderhaften Ort zu suchen, an dem der arme Knut sein Leben verlor.
Leni tätschel­te meine Wange und sagte schlicht und ergrei­fend: „Danke, Katja.“
„Ach Mutter, wie war es eigentlich in Lübeck?“, erkundigte sich Ulla nach einer Wei­le.
„Schön, mein Kind, wirklich sehr schön“, lächelte Frau Brandner. „Wir wa­ren im Museum. – Ja, im Museum!“, wiederholte sie nachdrücklich, nachdem sie Lenis und meinen überraschten Blicken begegnet war.
„Kein einziges Modege­schäft haben wir besucht. Und bei Kaiser's Kaffee haben wir auch nicht reinge­schaut.“
Wenn mich nicht alles täuschte, schwang leises Bedauern in ihrer Stimme mit. Jedenfalls kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es hatte beinah den Anschein, als reichten unsere Gepäckstücke in diesem Jahr aus. Und überhaupt, seit wann interessiert Mutti sich für Museen? Welchem hervorra­genden Einfluss verdankte ich dieses Wunder? –
„Da stehen viel­leicht Folter­werkzeuge herum“, seufzte die Gnä­digste einen Moment später.
Ulla zog sofort die Stirn kraus. „Also Mutter, das muss man sich nun wirklich nicht antun.“
„Nein, so etwas könnt ihr euch überhaupt nicht vorstellen. Eine echte Guillotine aus der franzö­sischen Revolution ist dort ausgestellt“, fuhr die Gnädigste unbeirrt fort. „Wes­halb sollte es falsch sein, sich über solche Dinge zu in­formieren, mein Kind?“
Leni war anzusehen, dass sie mächtig beeindruckt war, und mir ging auf der Stelle ein Licht auf: Niemand hatte sie eingeladen. Sie hatte auf Hof Lachau bleiben und schuften müssen, während die Damen Folterwerk­zeuge besich­tigten. Daher die schlechte Laune. Als ob die Kirschen nicht bis mor­gen Zeit gehabt hätten. Über die Hälfte der Bäume hing ohnehin noch voller Früchte. Zum Glück waren sie mit Netzen überzogen und vor dem Vo­gelfraß sicher.

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Ich wollte den Roman eigentlich „Katjas Briefe" nennen; aus diesem Grund habe ich das Titelblatt (s. unten) erstellt. Jetzt fungiert es als Zwischenblatt; habe bereits ein neues Titelblatt entworfen und stelle es euch demnächst hier vor. Danke fürs geduldige Lesen. Es wird mit jedem Kapitel etwas spannender noch, Annelie

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