Erinnerung und Wahrheit

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von Annelie Kelch

Was wären wir ohne unsere Erinnerungen? –
Ich will es Ihnen sagen: Wir wären uns selber fremd. Zwar nicht im Spiegel, aber in unseren Herzen. Bereits die letzte gelebte Minute ist nichts anderes als Erinnerung.

Vielen Menschen wird das Erinnern zur Qual, andere hingegen schöpfen Mut, Kraft und Zuversicht aus ihren Erinnerungen.

Sofern wir bereits in der Gegenwart daran denken, dass sie und nur sie allein unsere künftigen Erinnerungen gestaltet, würden wir im „Hier und Jetzt“ möglicherweise anders leben, falls wir dazu in der Lage wären.
Aber wem dringt diese logische Tatsache schon ins Bewusstsein?
Meist ist es das Leben selber, das uns davon abhält, gezielt an eine Zukunft zu denken, in der es uns nicht allein finanziell gut geht.

Beim Erinnern ist es wichtig, sich an die Wahrheit zu erinnern. „Gutes“ Erinnern setzt Wahrhaftigkeit voraus, ein Anspruch, der nicht so ohne weiteres zu erfüllen ist. Oft weichen wir der Wahrheit aus, verleugnen sie oder malen uns ein eigenes Bild, an das wir uns gern erinnern; aber wir alle tragen die Wahrheit in uns, obwohl wir sie nicht sehen, sondern eher fühlen. Manchmal kommt sie gar als „Blitz“ daher.

Nur dann, wenn wir uns ohne Lug und Trug an die Wahrheit erinnern beziehungsweise ihr so nahe wie möglich kommen, können wir versuchen, unsere Gegenwart so zu gestalten, dass uns das spätere Erinnern leichter fällt, dass wir uns gerne an unser gelebtes Leben erinnern.

Das ist alles so leicht dahingeschrieben, meinen Sie? – Sie haben Recht. Die haben gut reden, die von der Wahrheit sprechen, denken Sie. Wer kann sich schon rühmen, die reine Wahrheit zu kennen?

Ich kenne sie auch kaum mehr als oberflächlich, kenne nur Bruchstücke jener hoch gepriesenen Wahrheit, „die den Menschen zumutbar sei“ (Ingeborg Bachmann in ihrer Dankrede bei der Entgegennahme des "Hörspielpreises der Kriegsblinden" am 17. März 1959 ), obwohl ich mir große Mühe gebe, sie herauszufinden. Ich kenne mich ja selber kaum. Wie sollte ich denn da hinter die Wahrheit kommen?

Die Aussage: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ ist jedoch kein Irrtum, wie manche uns glauben machen wollen. Und es dürfte jedem bekannt sein, dass sich dieser Satz auf den Holocaust bezieht.
Ich habe kürzlich gelesen, dass man hinzufügen sollte: „Nicht jede Wahrheit ist an jedem Ort zu jeder Zeit auf jede Weise gleichermaßen gut zu sagen.“ Auch dieser Satz kommt der Frage nach der Aufklärung der Wahrheit näher, ist meines Erachtens jedoch nicht relevant in Bezug auf Ingeborg Bachmanns Feststellung, die das Erkennen der Wahrheit deshalb nicht anzweifelt, weil sie in Bezug auf den Holocaust gar nicht angezweifelt werden kann; alles andere wäre ein weiteres Verbrechen.

Lassen Sie sich bitte von niemandem einreden, dass er die Wahrheit kenne, Ihre Wahrheit. Er kennt sie nicht besser als Sie selber.
Aber sagen Sie bitte auch nicht zu einem Richter, sollten Sie irgendwann einmal vor ein Gericht zitiert werden: „Sie kennen die Wahrheit nicht, Herr Richter!“

Selbstverständlich kennt der Richter die Wahrheit nicht, woher denn auch; aber er weiß, gegen welchen Paragraphen Sie verstoßen beziehungsweise welches Delikt Sie begangen haben. Legen Sie sich ein Strafgesetzbuch und eine Strafprozessordnung zu und schauen Sie hin und wieder mal hinein, um Schlimmeres zu verhüten.

Sich wahrhaftig zu erinnern, macht erst den Sinn des Erinnerns aus. Es geht dabei keinesfalls darum, uns oder andere zu verdammen, sondern sich der Wahrheit so weit wie nur möglich zu nähern.

Wenn wir uns selbst verleugnen, führen unsere Erinnerungen zu keinem Reifeprozess. Aber auch Selbstverdammung kann mitnichten der richtige Weg sein. Sich gar nicht zu erinnern, sich nicht erinnern zu wollen, führt zu einer Stagnation in der Entwicklung.

Meines Erachtens werden unsere Erinnerungen am günstigsten ausfallen, wenn wir unseren eigenen Lebensweg gehen beziehungsweise gegangen sind – ohne Beeinflussung des Staates durch Kriege oder massive Fremdbestimmung.

Der Schriftsteller Heinrich Böll erwiderte einst in einem Fernsehinterview auf die Frage, weshalb er d e r Mensch geworden sei, der er ist (sozial, verständnisvoll, hilfsbereit, vorurteilslos etc.), „seine Heimatstadt Köln sei eine vulgäre Stadt. Er habe neun Jahre lang einen Schulweg durch vulgäre Stadtviertel gehen müssen – hin und zurück; das habe ihn geprägt“. Böll hat dabei gelächelt. Ich habe ihn gut verstanden.

Richard von Weizsäcker hat in seiner zu Recht viel beachteten Rede vom 08. Mai 1985 gesagt, dass es wichtig sei, „die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Es ginge nicht darum, jene Vergangenheit zu bewältigen. Das könne man gar nicht … wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, werde blind für die Gegenwart“ – sehr wahr.

In diesem Fall müssen wir die Wahrheit nicht lange suchen: Sie ist vielfach dokumentiert. Zum Beispiel von Claude Lanzmann in seinem Holocaust-Dokumentarfilm „Shoah“.

Der Wahrheit, weshalb wir dies oder jenes getan, wie wir uns verhalten haben in der Vergangenheit, ist nicht so leicht auf den Grund zu gehen.
Wir sollten nichts beschönigen, aber unser Leben in der Vergangenheit auch nicht abgrundtief verdammen. Es gibt ohnehin nur wenige Menschen, die ihre Fehler, die sie in der Vergangenheit gemacht haben, erkennen. Vielmehr ist es so, dass die meisten Menschen, obwohl sie die Quittung dafür bereits bekommen haben, noch nicht einmal jene Fehler (oftmals die gleichen) erkennen, die sie in der Gegenwart machen.
Je mehr Gesichter die Wahrheit hat, desto schwieriger dürfte es sein, sie aufzuklären, zu erkennen.

Selbst wenn Ihre Vergangenheit ein noch so schlechtes Licht auf Sie wirft, vergessen Sie sie bitte nicht, werfen Sie sie bitte nicht fort wie ein Stück Müll, anderenfalls würden Sie total verdummen. Und lassen Sie sich bloß nicht einreden, dass nur Sie allein die Schuld an Ihrer Vergangenheit tragen. Auch das ist ein Irrtum. Sie sind nicht allein auf dieser Welt. –

Ich werde weiter nachdenken – über die Wahrheit und so. Falls ich ihr (noch) näher kommen sollte, lasse ich Sie rechtzeitig daran teilhaben.
Derweil machen Sie 's einfach besser – in der Gegenwart, im „Jetzt und Hier“. Und denken Sie beizeiten daran: Die nächste Erinnerungsperiode kommt bestimmt! Möglicherweise im Seniorenheim, falls Sie sich dafür entscheiden sollten (müssen)! Ich möchte nämlich, dass Sie dort allerhand zu lachen statt zu jammern haben. Dort findet nämlich der letzte Abschnitt ihres Lebens statt.

Liebe Grüße,
Annelie

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