Seiten
menschlicher. Tödte, Schatten, tödte! Und sieh, wie seine guten Thaten aus der Todeswunde hervorströmen, um in der Welt unsterbliches Leben zu sehen.
Keine Stimme flüsterte diese Worte in Scrooge’s Ohren, aber doch hörte er sie, wie er auf das Bett blickte. Er dachte, wenn dieser Mann jetzt wieder erweckt werden könnte, was würde wohl sein erster Gedanke sein? Geiz, Hartherzigkeit, habgierige Sorge. Ein schönes Ziel haben sie ihm bereitet!
Er lag in dem dunklen leeren Hause und kein Mann, oder Weib, oder Kind war da, um zu sagen, er war gütig gegen mich in Dem und in Jenem, und dieses einen gütigen Wortes gedenkend, will ich seiner warten. Eine Katze kratzte an der Thür und die Ratten nagten und raschelten unter dem Kamin. Was sie in dem Gemach des Todes wollten und warum sie so unruhig waren, wagte Scrooge nicht auszudenken.
„Geist,“ sagte er, „dies ist ein schrecklicher Ort. Wenn ich ihn verlasse, werde ich nicht seine Lehre vergessen, glaube mir. Laß uns gehen.“
Immer noch wies der Geist mit reglosem Finger auf das Haupt der Leiche.
[109] „Ich verstehe Dich,“ antwortete Scrooge, „und ich thäte es, wenn ich könnte. Aber ich habe die Kraft nicht dazu, Geist. Ich habe die Kraft nicht dazu.“
Wieder schien der Geist ihn anzublicken.
„Wenn irgend Jemand in der Stadt ist, der bei dieses Mannes Tod etwas fühlt,“ sagte Scrooge erschüttert, „so zeige mir ihn, Geist, ich flehe Dich darum an.“
Die Erscheinung breitete ihren dunkeln Mantel einen Augenblick vor ihm aus wie einen Fittich; und wie sie ihn wieder wegzog, sah er ein taghelles Zimmer, in dem sich eine Mutter mit ihren Kindern befand.
Sie hoffte auf Jemandes Kommen in angstvoller Erwartung; denn sie ging im Zimmer auf und ab; erschrak bei jedem Geräusch; sah zum Fenster hinaus; blickte nach der Uhr; versuchte vergebens zu arbeiten; und konnte kaum die Stimmen der spielenden Kinder ertragen.
Endlich hörte sie das lang ersehnte Klopfen an der Hausthür und traf, als sie hinaussehen wollte, ihren Gatten. Sein Gesicht war bekümmert und niedergeschlagen, obgleich er noch jung war. Es zeigte sich jetzt ein merkwürdiger Ausdruck in demselben, eine Art ernster Freude, deren er sich schämte und die er sich zu unterdrücken bemühte.
Er setzte sich zum Essen nieder, das man ihn am Feuer aufgehoben hatte; und als sie ihn erst nach langem Schweigen frug, was er für Nachrichten bringe, schien er um die Antwort verlegen zu sein.
„Sind sie gut,“ sagte sie, „oder schlecht?“
[110] „Schlecht,“ antwortete er.
„Wir sind ganz zu Grunde gerichtet?“
„Nein, noch ist Hoffnung vorhanden, Karoline.“
„Wenn er sich erweichen läßt,“ rief sie erstaunt, „dann ist noch welche da! Ueberall ist noch Hoffnung, wenn ein solches Wunder geschehen ist.“
„Für ihn ist es zu spät, sich zu erbarmen,“ sagte der Gatte. „Er ist todt!“
Wenn ihr Gesicht Wahrheit sprach, so war sie ein mildes und geduldiges Wesen; aber sie war dankbar dafür in ihrem Herzen und sagte es mit gefalteten Händen. Sie bat im nächsten Augenblick Gott, daß er ihr verzeihen möge und bereute es; aber das Erste war die Stimme ihres Herzens gewesen.
„Was mir die halbbetrunkene Frau gestern Abend sagte, als ich ihn sprechen und um eine Woche Aufschub bitten wollte; und was ich nur für eine bloße Entschuldigung hielt, um mich abzuweisen, zeigt sich jetzt als die reine Wahrheit. Er war nicht nur sehr krank, er lag schon im Sterben.“
„Auf wen wird unsere Schuld übergehen?“
„Ich weiß es nicht. Aber vor dieser Zeit noch werden wir das Geld haben; und selbst, wenn dies nicht wäre, wäre es ein großes Mißgeschick in seinem Erben einen so unbarmherzigen Gläubiger zu finden. Wir können heute Nacht mit leichterem Herzen schlafen, Karoline.“
Ja, sie mochten es verhehlen, wie sie wollten, ihre Herzen waren leichter. Die Gesichter der Kinder, welche sich [111] still um sie drängten, um zu hören, was sie so wenig verstanden, erhellten sich und Alle wurden glücklicher durch dieses Mannes Tod. Das einzige von diesem Ereigniß erregte Gefühl, welches ihm der Geist zeigen konnte, war eins der Freude.
„Laß mich ein zärtliches, mit dem Tode verbundenes Gefühl sehen,“ sagte Scrooge, „oder dies dunkle Zimmer, welches wir eben verlassen haben, wird mir immer vor Augen bleiben.“
Der Geist führte ihn durch mehrere Straßen, durch die er oft gegangen war; und wie sie vorüber schwebten, hoffte Scrooge sich hier und da zu erblicken, aber nirgends war er zu sehen. Sie traten in Bob Cratchit’s Haus, dieselbe Wohnung, die sie schon früher besucht hatten, und fanden die Mutter und die Kinder um das Feuer sitzen.
Alles war ruhig, Alles war still, sehr still. Die lärmenden kleinen Cratchit’s saßen stumm, wie steinerne Bilder, in einer Ecke und sahen auf Peter, der ein Buch vor sich hatte. Die Mutter und die Töchter nähten. Aber gewiß waren sie auch still, sehr still.
„Und er nahm ein Kind und stellte es in ihre Mitte.“
Wo hatte Scrooge diese Worte gehört? Der Knabe mußte sie gelesen haben, als er und der Geist über die Schwelle traten. Warum fuhr er nicht fort?
Die Mutter legte ihre Arbeit auf den Tisch und fuhr mit der Hand nach dem Auge.
„Die Farbe blendet mich,“ sagte sie.
[112] Die Farbe? ach, der arme Tiny Tim!
„Sie sind jetzt wieder besser,“ sagte Cratchit’s Frau. „Die Farbe blendet sie bei Licht und ich möchte den Vater, wenn er heim kommt, nicht sehen lassen, daß ich schwache Augen habe. Es muß bald seine Zeit sein.“
„Fast schon vorüber,“ erwiderte Peter, das Buch schließend. „Aber ich glaube, er geht jetzt ein wenig langsamer als gewöhnlich, Mutter.“
Sie waren wieder sehr still. Endlich sagte sie mit einer ruhigen, heitern Stimme, die nur ein einziges Mal zitterte:
„Ich weiß, daß er mit – ich weiß, daß er mit Tiny Tim auf der Schulter sehr schnell ging.“
„Und ich auch,“ rief Peter. „Oft.“
„Und ich auch,“ riefen die Andern.
„Aber er war sehr leicht zu tragen,“ fing sie wieder an, fest auf ihre Arbeit sehend, „und der Vater liebte ihn so, daß es keine Beschwerde war – keine Beschwerde. Und da kommt der Vater.“
Sie eilte ihm entgegen und Bob mit dem Shawl – er hatte ihn nöthig, der arme Kerl – trat herein. Sein Thee stand bereit und sie drängten sich Alle herbei, wer ihm am meisten
Seiten
A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas (wörtlich Ein Weihnachtslied in Prosa, oder Eine Geistergeschichte zum Christfest, deutsch meist Eine Weihnachtsgeschichte) ist eine der bekanntesten Erzählungen von Charles Dickens. Sie wurde im Dezember 1843 mit Illustrationen von John Leech erstmals veröffentlicht.