So what? – eine wahre Schulgeschichte

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Es war an einem Spätnachmittag im Februar - draußen starrten die eingeschalteten Lichter in den Hochhäusern meiner Satellitenstadt in die milchigkalte Dämmerung -, als ich in der Sonntagsausgabe meiner Lieblingszeitung folgende Anzeige las:

„SIE ist 46 Jahre alt, so what?
SIE ist gehbehindert, so what?
SIE ißt gerne gut, so what?
SIE reist gerne, so what?
ER schreibt, that 's what!“.

Es waren die zweite und letzte Zeile, die mich an jenem melancholischen Tag besonders berührten. Ich schnitt das Inserat aus und verwahrte es jahrelang in einer Schublade auf, ohne zu ahnen, dass es dafür einen tieferen Grund gab. Im Laufe der Zeit dachte ich häufig über die Inserentin nach, ohne wiederum den wahren Anlass meines Interesses am Schicksal dieser Frau auch nur zu ahnen – bis ich eines Tages beim Aufräumen erneut auf die Anzeige stieß: „SIE ist gehbehindert – so what …?“

Plötzlich tauchte während des Lesens dieser Zeilen das Bild einer Frau vor meinen Augen auf: Ruth Bergenthal, meine erste Lehrerin, mittelgroß, schlank, dunkelblondes, welliges Haar. Sie war gehbehindert, zog das linke Bein nach. Ich erinnerte mich noch ganz genau an ihr liebes, kluges Gesicht, reflektierte augenblicklich ihr ruhiges, freundliches Wesen, das vorbildlich für uns Kinder gewesen war.

Überaus ängstlich spazierte ich an jenem ersten Schultag an der Hand meiner Mutter in die kleine Dorfschule. Ruth Bergenthal bemerkte sofort, wie es um mich stand, nahm mich liebevoll in den Arm und schenkte mir ein Lächeln und aufmunternde Worte. Nur ihr hatte ich zu verdanken, dass ich meine Scheu nach und nach überwand. Wenn ihre dunkelblauen, schönen Augen vor Freude aufleuchteten, weil ich schon fließend lesen konnte, fühlte ich mich glücklich und stolz.

Ich spürte, dass sie mich sehr gern hatte, lieber noch als Janny, die Tochter unseres Schuldirektors. Janny war in allen Fächern sehr gut, weil sie sehr gut in allen Fächern und Klassenbeste sein musste. Und damit sie das war, bekam sie von ihrem Vater regelmäßig Schläge mit der Peitsche auf den Rücken.
Wir verstanden uns gut, Janny und ich, und saßen in den ersten Schuljahren nebeneinander.

Eines Tages zeigte sie mir im Schulklo die dicken roten Striemen, die die Peitschenhiebe auf ihrem Rücken hinterlassen hatten. Ich war entsetzt und verstand seither, weshalb sie manchmal so ernst und verbissen um gute Noten kämpfte. Janny hat später ein Einser-Abitur gemacht und ist gleich darauf in die Vereinigten Staaten ausgewandert.

Wir kamen beide gut aus mit Fräulein Bergenthal. Wer kam das nicht? Niemand von uns Kindern nahm wahr, dass sie hinkte, obwohl es augenfällig war. Niemand von uns machte je eine abfällige Bemerkung darüber, selbst der vorlauteste und verwegenste Junge nicht, mit dem Fräulein Bergenthal fraglos bestens zurechtkam. Unsere Lehrerin war von einer ruhigen Fröhlichkeit, und ihre gütige Art und der heitere Ernst, mit dem sie uns den Unterrichtsstoff vermittelte, ließen uns Kinder zusammenhalten.

Fräulein Bergenthal trug meistens Röcke - leicht ausgestellt und in gedeckten Farben, eine weiße Bluse dazu und, wenn es kühler wurde, Strickjacken aus dunkelblauer Wolle. Sobald ich eine ihrer Fragen gut beantwortet hatte, lachte sie mich jedes Mal so herzlich an, und ihre Augen leuchteten dermaßen gütig, dass mir alleweil ganz warm ums Herz wurde. Sogar meine Schüchternheit hatte sich unter ihrem Einfluss deutlich gelegt.

So fand ich dann doch noch Gefallen an der Schule - bis sich eines Tages, es war ein sonniger Frühlingsmorgen, etwas in meinen Blick schlich, das mir großes Unbehagen bereitete und wofür ich mich bis heute schäme, sobald ich nur daran denke.

Mein Unglück begann damit, dass meine Mutter beim Mittagessen zu meinem Vater sagte: „Denk dir, ich habe heute Frau Ehlert getroffen; sie hat mir erzählt, dass Fräulein Bergenthal im Juni heiratet und nach Krefeld zieht.“
Mir blieb der Bissen im Halse stecken, so sehr erschrak ich über diese Nachricht. Ich dachte nur an mich und was sie mir damit antat. Dass unsere schöne Schulzeit mit ihrem Fortzug in eine andere Stadt beendet war, ahnte ich nicht nur, sondern ich war auch felsenfest davon überzeugt. Fräulein Bergenthal war ein ganz besonderer Mensch, den niemand ersetzen konnte.

Es sollte allerdings noch ein Weilchen dauern, ehe sie uns verließ, und es gesellte sich eine neue Sorge für mich hinzu: Petra Hauser, die wegen ihrer rüpelhaften Art von allen „Peter“ genannt wurde, hatte sich angewöhnt, mich auf dem Nachhauseweg in die kleinen Gräben neben dem Straßenrand zu schubsen, die gottlob kein oder nur wenig Wasser führten. Ich musste mir jeden Tag aufs neu Gedanken darüber machen, wie ich „Peter“ am besten aus dem Weg ging.

Allmählich gewöhnte ich mich an die Tatsache, dass wir eine neue Lehrerin bekommen sollten. Ich ahnte allerdings nicht im Entferntesten, was mir und meinen SchulkameradInnen blühen sollte.

Über Fräulein Bergenthals bevorstehenden Umzug wurde bei uns zu Hause oft gesprochen, und einmal hörte ich meine Mutter sagen: „Wie schön, dass sie mit ihrem steifen Bein noch jemanden gefunden hat.“

Diese oberflächlichen Worte, vor einem Kind in den Raum geworfen, womöglich ernst gemeint und dennoch unbedacht formuliert, ließen mich aufhorchen, und ich grübelte über diesen banalen Satz meiner Mutter nach, ohne zu einem rechten Ergebnis zu kommen. Hatte Fräulein Bergenthal es nötig, jemanden abzubekommen? Sie, die immer so fröhlich und zufrieden war, über alle Dinge des Lebens Bescheid wusste und so viele Interessen hatte, dass ihr nie langweilig werden würde? - Nein, fand ich. Ich war fest davon überzeugt, dass Ruth Bergenthal ihre große Liebe gefunden hatte, anderenfalls hätte sie sich niemals dazu entschlossen, uns Kinder zu verlassen.

Dann zog der Tag herauf, an welchem Fräulein Bergenthal nach dem Lied, das wir jeden Morgen zur Begrüßung sangen, zu uns sagte: „Kinder, ich heirate bald und ziehe nach Krefeld.“

Ein glückliches Lächeln lag während dieser Worte auf ihrem Gesicht, aber ich vernahm im Hinterkopf plötzlich die Stimme meiner Mutter: 'Wie schön (sie kann sich freuen), dass sie mit ihrem steifen Bein noch jemanden abbekommen hat.'
Ohne dass ich es wollte oder verhindern konnte, nahm mein Gesicht einen Ausdruck an, der Skepsis hinsichtlich ihres Glücks verraten musste – und zum ersten Mal blickte ich auf ihr steifes Bein, sah es mir an. In diesem Moment traf mich ihr Blick, und was sie in meiner Miene las, ließ das Lächeln auf ihren Lippen erstarren. Ich schämte mich entsetzlich und blickte zur Seite.

Am Ende des letzten Unterrichtstages schritt sie durch unsere Bankreihen und verabschiedete sich von jedem ihrer Schüler und Schülerinnen mit einem Händedruck. Als ich an der Reihe war, wagte ich kaum, ihr in die Augen zu schauen, so beschämt war ich und so unendlich traurig, dass sie uns verließ. Sie aber lächelte mich freundlich an und drückte mir die Hand. Ich hatte große Mühe, meine Tränen zurückzuhalten und ging an jenem Tag den weiten Weg ganz allein und als letzte nach Hause. Es war der erste Abschied in meinem Leben, der mit großen Kummer bereitete.

Fräulein Bergenthal nahm unsere schönste Schulzeit mit nach Krefeld; denn im dritten Schuljahr zog mit der neuen Lehrerin ein anderer, eiskalter Wind in unser Klasse. Die Neue war das Gegenteil von Ruth Bergenthal: Ihre Röcke waren papageienbunt, die Säume schauten heraus, ihre Haare standen wirr vom Kopf ab, und die Blusen, die sie trug, hatten meistens Flecken. Ich konnte sie einfach nicht ausstehen.

Mich mochte sie ebensowenig wie Janny, die schon bald nicht mehr neben mir sitzen durfte, weil wir uns so gut verstanden. Das Klima in unserer Klasse wurde kalt wie in der Arktis. Die Neue schrie und schimpfte mit uns und hatte mit niemandem Geduld. So zog der Krieg des Lebens auch in unser bisher friedliches Klassenzimmer und nicht nur meine Leistungen sanken rapide.

Als ich kürzlich ein Formular ausfüllen musste, darin unter anderem nach dem Familienstand gefragt wurde, schrieb ich spontan: 'geschieden – so what?'

Fräulein Bergenthal habe ich bis heute nicht vergessen und werde mich wohl bis an mein Lebensende oft und mit traurigem Herzen an sie erinnern.

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