Lanzarote ist überall

Bild zeigt Stefan Fourier
von Stefan Fourier

Mit schwingenden Hüften kam sie auf ihn zu. Er hatte nicht den Eindruck, dass sie damit kokettierte oder in irgendeiner Weise übertrieb. Sie ging einfach so. Es war ihr naturgemäßer Gang. Und wieder stockte ihm leicht der Atem. Dieses Gefühl einer sanften Überwältigung hatte er gestern Abend auch schon. Er sah sie in der Pyramide tanzen. Ganz versunken in sich selbst und mit dieser eigenartigen Gewissheit in der Bewegung.

Er, Gatsby Fitzgerald, hatte sich das Treiben dieser Esoteriker und New-Age-Leute auf Lanzarote ansehen wollen. Mehr aus Langeweile, denn alles andere hatte er schon besichtigt. Die Spuren des Schaffens von César Manrique, die bizarren Lavaformationen der Vulkanausbrüche des 19. Jahrhunderts, das eigenartige Weinanbaugebiet La Geria. Er hatte die roten Läuse auf den Kakteen im Jardín de Cactus beäugt, war kreuz und quer über die Insel gefahren, sogar auf einem Dromedar geritten. Er hatte Fisch und Kaninchenbraten gegessen und mehr als genug Wein getrunken. Eigentlich war er durch mit der Insel. Vielleicht würde er hier später einmal einen Film drehen. Jetzt fiel ihm nichts Konkretes ein. Die Inspiration kam und kam nicht. Und nur weil er seinen Rückflug nicht vorverlegen konnte bei dieser unflexiblen Chartergesellschaft, musste er noch zwei Tage hier hinter sich bringen. Und dann hatte er im Hotel Las Salinas zufällig den Flyer dieses Zentrums in Costa Teguise in die Hand bekommen. Darin war von besonderen Erfahrungen die Rede, von der glühenden Sinnlichkeit der Insel, vom Feuerlaufen und von Ausflügen in die spektakuläre Dunkelheit und Stille geheimer Höhlen voller „plutonischer Energie“.

Aber an Ausflüge in komische Höhlen hatte er nicht mehr gedacht, als er in ihre dunklen Augen sah. Ihr Blick hatte ihn noch nicht einmal geprüft, als er sie ansprach. Sie war sich ihrer selbst so sicher, dass ihre Pupillen ihn vom ersten Moment an aufsaugten. Er fühlte eine Benommenheit, wie er sie Frauen gegenüber überhaupt nicht kannte. In seinem Hirn, in all seinen Nerven und Zellen breitete sich eine einzige Empfindung aus: die Göttin!

Schnell schüttelte Gatsby dieses irritierende Gefühl ab. Was war nur mit ihm los? Schließlich hatte er einen Ruf als Frauenheld. Und das sogar in Hollywood. Er als berühmter Regisseur, Oscar-Preisträger und routinierter Charmeur sollte hier vor dieser jungen und halb im Nirwana tanzenden Frau einknicken? Er fing an, sie mit einem Redeschwall zu überschütten, und gewann langsam seine Sicherheit wieder. Als sie sich für den nächsten Tag verabredeten – Insel zeigen, ganz besondere Plätze, energetisch, mystisch – hatte er das Gefühl, dass sie ganz eigenartig in sich hinein lächelte.

Aber nun kam sie auf ihn zu. Er saß lässig im offenen Mercedes, blinzelte in die Sonne und schaute ihr entgegen. Sie öffnete die Wagentür, glitt auf den Ledersitz, schloss die Tür, drehte den Kopf zu ihm und wieder saugten sich ihre Augen an ihm fest. „Fahr einfach los.“ Der Wagen schwang sanft durch die Kurven, gelangte außerhalb Arrecifes in freies Gelände und glitt in gemächlichem Tempo in Richtung Timanfaya. Er dachte an den Hähnchengrill über einer vulkanischen Felsspalte im Restaurant El Diablo. Alles Touristen-schnickschnack. Wollte sie etwa dahin mit ihm? Damit konnte sie ihn nicht beeindrucken, grinste er in sich hinein.

Die Straße zog sich in Kurven durch das Lavagebiet. So weit das Auge reichte, war da nur schwarzes Geröll. Gatsby spürte Faszination und gleichzeitig eine eigenartige Beklommenheit beim Anblick dieser Landschaft. Sah so das Ende der Welt aus? Oder der Anfang? Irritierend. Voller Kraft, schlummernder Gewalt, Gefahr.

„Bieg da vorn rechts in den Weg ein“, brachte ihn die volltönende Stimme seiner Begleiterin zurück in die Wirklichkeit. „Was, in das Lavafeld?“ Sie nickte und schaute geradeaus. Er steuerte in den unbefestigten Seitenweg, der sich zwischen den Gesteinsbrocken hindurch schlängelte und nach wenigen Minuten endete. Ringsum nur schwarzes Geröll. Gatsby machte den Motor aus. Sofort senkte sich eine eigenartige Stille auf ihn. Nur der Wind war noch sanft zu hören. Ein Gefühl von Unendlichkeit kam auf.

Sie schaute ihm direkt in die Augen. Und wieder war er irritiert. Die Weite der Stille, die Tiefe und Unergründlichkeit ihrer Augen. Es keimte so etwas wie Urangst in ihm auf. Aber noch einmal konnte er es mit eingeübten Worten überspielen. „Lass uns ein Picknick machen. Ich habe Champagner und Langusten in Chilisoße dabei. Alles in einer Eisbox. Und eine Decke ist natürlich auch im Kofferraum.“ Das sollte verwegen und vielsagend klingen und ihm die gewohnte Oberhand sichern. Er lächelte dabei auf die Art, mit der er seinen Ruf als Frauenheld begründet hatte. Aber sie reagierte überhaupt nicht so, wie Dutzende Frauen vor ihr. Sie stieg einfach aus und ging mit wiegenden Hüften in das Lavafeld hinein. Irgendwie schien sein Verführungsplan nicht aufzugehen. Na, dann eben nicht, dachte er mit einem Seufzer. Er löste sich vom Wagen, an dem er lässig gelehnt hatte und verlor im selben Moment das Gefühl der Sicherheit seiner gewohnten Welt. Er folgte ihr.

Als er bei ihr ankam, hatte er beschlossen, dass diese Einöde wirklich das Ende aller Dinge war. Was sollte hier denn noch sein? Nur Steine, Dreck, Tod. Und dazu diese Frau, die überhaupt nicht auf seine Verführungsversuche reagierte. Nichts um ihn herum war Leben. Nur schwarzes Gestein, hier und da durchsetzt von rötlichbraunem, grobkörnigem Sand. Er befand sich in einer toten Welt. In ihm entstand ein Abbild dieser Trostlosigkeit. Er verlor sein Gefühl für Leben, gab alles auf – sein Verlangen nach der Frau, seine Vitalität, seine Hoffnung. Es schien ihm, als sei er an einem Ende angekommen, von dem aus es keinen Anfang mehr gab.

Sein Blick folgte ihrer ausgestreckten Hand. Tatsächlich, da mitten in diesem Nichts schien etwas zu sein. In einigen Metern Entfernung war ein Hauch von Grün zu sehen. Eigentlich eher zu ahnen. Sie gingen näher heran und entdeckten in einigen Lavaritzen kleine Moospflänzchen. Unglaublich, sie wuchsen buchstäblich aus den Steinen heraus. Ungefähr zehn Meter weiter das Gleiche. Und als sie weitergingen, kamen sie in eine Senke. Auch dort bestand der Boden aus Lavagestein. Und doch gab es darin einige Flecken mit Bewuchs. Zwergenhaft, aber real. Dazwischen sogar einige Grasbüschel. Dann kam wieder nur rotbrauner Sand, aus dem schwarze Gesteinsbrocken ragten. In einiger Entfernung dann plötzlich ein Busch.

Gatsby staunte. Sollte so aus dem Nichts Leben entstehen? Er durch-forstete das solide Halbwissen eines erfahrenen Regisseurs in seinem Kopf. Evolution hatte er immer als einen planmäßig ablaufenden Prozess verstanden. Hatte dieser Darwin nicht gemeint, das liefe stets vom Niederen zum Höheren. Also strategisch voranschreitend, die Welt erobernd, genau wie Hollywood? Aber hier wirkte das alles eher zufällig, wie hingestreut. Was, wenn hinter all der Vielfalt des Lebens auf Erden gar kein Plan existierte? Wenn einfach nur immer das entstand, was gerade passte? Völlig absichtslos. Dann waren alle Lebensformen zunächst einmal das zufällige Ergebnis irgendeines Beginns, auch der Mensch … Möglich, dass andere vor ihm bereits in diese Richtung gedacht hatten. Für ihn war es neu und er nahm die Erfahrung des Neuen als wichtigen Ausgangspunkt für weitere Überle-gungen in sich auf.

Dazu kam er aber nicht mehr. Denn die Augen der Frau neben ihm zogen ihn zu sich heran. Alles in ihm vibrierte. Er ging auf sie zu, versank mit all seinen Sinnen.

Es geschah ohne Plan. Wie das Leben.

Aus "Der blaue Diwan", April 2009.

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