Der Sperling

Bild zeigt Stefan Fourier
von Stefan Fourier

Der Sperling zitterte vor Kälte. Mann, war das kalt! So richtig saumäßig, beißend, elend kalt! Er hockte einsam auf diesem öden Weg. Harter, festgefahrener Boden. Die Flügel waren ihm längst steifgefroren und er zitterte und zitterte. Rings um ihn herum Kältestarre. Zugefrorene Pfützen so weit das Auge reichte. Mit Raureif überzogene Gräser am Wegesrand. Der Himmel hellgrau, ohne Konturen, wie eine riesige Eisscholle. Der Wind fegte feine Schneekristalle über den Weg. Es fühlte sich an wie tausend Nadelstiche.

Wie war er bloß hierher gekommen? Das hatte er doch nicht gewollt! Einsam auf einem Weg sitzen, irgendwo in einem Feld, mitten im Nichts. Festgefroren sein und sich nicht mehr bewegen können. Hätte er das bloß vorausgesehen! Dann wäre er niemals losgeflogen. Aber so hatte er sich aufgeschwungen, als ob der Himmel keine Grenzen hätte. Fröhlich zwitschernd war er aufgestiegen, höher und höher. Voller Hoffnung, irgendwo ein paar Körner zu finden, vielleicht sogar ein Körnerparadies. Und alle Sperlinge würden ihn beneiden. Und sie würden ihn feiern als einen großen Helden. Beschwingt und heiter war er geflogen, weiter und weiter. Ach, was war das schön gewesen! Doch irgendwann hatten ihn seine Kräfte verlassen. Und dann hatte das Wetter umgeschlagen. Und jetzt das. Einfach kalt erwischt!

Der Sperling zitterte. Und die Erde zitterte mit. Der Sperling und die Erde zitterten. Die Erde zitterte immer heftiger. Und noch heftiger. Der Sperling verstand nicht, warum. Schon zitterte das Eis der Pfütze, neben der er festgefroren war. Und jetzt wurden die Erschütterungen noch stärker. Das Eis zeigte feine Risse. Und dann zitterte es noch stärker. Ach du grüne Neune! Was war das bloß? Ein Erdbeben? Der Weltuntergang? Mindestens! Was kam da auf ihn zu? Der Sperling zitterte nicht mehr. Er war vor Angst erstarrt.

Die Erde zitterte auch nicht mehr. Sie bebte. Und ein lautes, rhythmisches Geräusch kam näher. Erst ein Pochen. Dann ein Hämmern. Dann ein Trommeln. Dann ein Knallen. Bum, bum, bum. Trab, trab, trab. Ein Tier? Ein Ungeheuer? Ja, das musste es sein. Ein riesiges Tier näherte sich dem Sperling. Ein Ungeheuer kam auf ihn zu. Und der Sperling konnte nicht weg! Seine Krallen waren auf dem Boden festgefroren und seine Flügel waren steif. Er saß mitten auf dem Weg und konnte sich nicht mehr bewegen! Und das Monstrum kam näher und näher. Bum, bum, bum. Trab, trab, trab. Das war das Ende. Gleich würde er zermalmt werden. Zertreten wie ein trockener Ast. Das Eis auf der Pfütze zerbarst. Der Himmel verdüsterte sich. Um den Sperling herum wurde alles schwarz. Das Ungeheuer war genau über ihm. Jetzt war es aus. Jetzt.

Flaaaaaaaaatsch!

Stille. Dunkelheit. So ist es also, wenn man tot ist, dachte der Sperling. Aber wie war es denn? Wie genau fühlte es sich an, tot zu sein? Stickig war es. Weich war es. Aber auch warm. Ja, es war warm. So richtig wohlig warm. Auf einmal konnte der Sperling seine Krallen wieder bewegen. Auf einmal lösten sich seine festgefrorenen Flügel vom Rumpf. Der Sperling fühle sich wie neugeboren. Ja, das war es, eine Wiedergeburt! Eben noch hatte er gezittert vor Kälte und jetzt fühlte er sich wie in Abrahams Schoß. War das herrlich, war das wunderbar! Der Sperling konnte sein Glück kaum fassen. Es war wie eine Erlösung.

Nach einer Weile hatten sich die Augen des Sperlings an die Dunkelheit gewöhnt. Und siehe da, es war gar nicht so schwarz um ihn, wie er erst gedacht hatte. Es war eher bräunlich. Ein interessantes Mittelbraun. Der Sperling schaute sich genauer um. Das gab es doch nicht! Da waren ja Körner! In seiner schönen, warmen, wohligen Hülle steckten lauter Körner. Futter! Endlich! Seit Ewigkeiten hatte der Sperling nichts mehr gefressen. Nur gefroren und gezittert. Nur gehadert mit seinem Schicksal. Und nun war er umgeben von Körnern. Er brauchte sie nur noch zu picken. Er war rundherum versorgt!

Wie ich das wieder mal hingekriegt habe, sagte sich der Sperling. Ich bin einfach ein genialer Vogel! Ich habe alles richtig gemacht. Meine Strategie ist aufgegangen. Ich bin einfach ein Siegertyp! Wie wird man mich bewundern! Genau zum richtigen Zeitpunkt bin ich losgeflogen. Und dann immer in exakt die richtige Richtung. Ich habe alle Winde richtig eingeschätzt. Meine Flugroute war absolut zuverlässig berechnet. So konnte ich zum idealen Zeitpunkt an genau dieser Stelle landen. Dann musste ich eine kleine Durststrecke überwinden. Aber das war ja von Anfang an eingeplant! Das wusste ich ja vorher! Und jetzt bin ich am Ziel.

Hurra! Hurra! Ich habe es geschafft! Der Sperling jubelte und trällerte. Er jauchzte und triumphierte. Er jubilierte und frohlockte. Er verspürte so viel Energie, dass er trotz seiner eingeschlossenen Lage sogar ein wenig mit den Flügeln schlagen konnte. Und ein ganz, ganz kleines bisschen hüpfen konnte. Und so begann der Pferdeapfel, der den Sperling umgab, zu bröckeln. Hier und da und dort fiel ein kleines bisschen ab. Bis wieder Licht und Luft an den Sperling kamen. Bis er den Kopf herausstrecken und die Welt wieder sehen konnte. Bis die Welt ihn wieder sehen konnte. In seiner Einbildung hörte er schon die anderen Sperlinge jubeln. Sie klatschten mit den Flügeln und trampelten mit den Füßen. Für ihn! Dem Sperling ging das Herz über. Er jubilierte so laut, dass man ihn auf dem ganzen Feld hören konnte. Ja, bis ins nächste Dorf hörte man ihn pfeifen und zwitschern und trällern.
Hurra, hurra! Trallali, trallala! Ich bin der Größte! Hurra, hurra! Trallali, trallala!

Das hörte eine Katze. Ganz leise kam sie angeschlichen. Die Erde zitterte nicht. Das Eis auf dem Weg vibrierte nicht. Ihre Pfoten hämmerten nicht und pochten nicht. Sie trabte nicht und polterte nicht. Sie kam nur näher. Lautlos kam sie näher. Näher und näher. Immer näher.

Schnapp!

Die Katze fing den Sperling und er verschwand in ihrem Maul.

Aber manchmal sind Katzen zu gierig, um zu kauen. Dann schlucken sie ihre Beute im Ganzen. Das passiert zwar selten, aber immerhin. Sie würgte ihn hinunter und so erlebte unser Sperling die schlimmsten Minuten seines Lebens. Er wurde gedrückt und gequetscht. Alle seine Knochen kamen in Schieflage. Er konnte sie gar nicht mehr spüren, alles war nur noch ein einziger Schmerz. Und es zog ihn unwiderstehlich immer in eine Richtung. Selbst der Gedanke an Gegenwehr verging ihm. Er war völlig bewegungslos, ausgeliefert. Es war schlimmer als es in seinem Ei kurz vorm Schlüpfen gewesen war. Da hatte er wenigstens noch eine Chance gehabt. Aber jetzt? Und erst das Licht. Genau genommen war da kein Licht. Es war stockfinster mit einer Tendenz zu Rot. Fürchterlich. Als der Druck nach Ewigkeiten etwas nachließ, spürte er überall im Gefieder und sogar darunter einen ätzenden Schmerz, der immer schlimmer wurde. Irgendetwas Flüssiges drang von allen Seiten in ihn ein und begann ihn zu zerfressen. Er wurde ohnmächtig. Das war das Ende.

Doch plötzlich kam er wieder zu sich. Es erfasste ihn ein unbeschreiblicher Druck. Alles, sein ganzer geschundener Körper setzte sich wieder in Bewegung. Er hörte ein lautes Würgen. Es wurde immer lauter. In betäubender Geschwindigkeit katapultierte es ihn aus seinem Gefängnis hinaus. Er knallte auf das Eis der Pfütze, sah im Augenwinkel, wie die Katze davon taumelte. Er spürte die schneidende Kälte des Wintermorgens. Sie belebte ihn. Die gleiche schneidende Kälte, die ihn vorher fast umgebracht hätte.

Aus "Der blaue Diwan", April 2009

Veröffentlicht / Quelle: 
Der blaue Diwan
Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: