Das Volk der Fugoten - eine Erzählung - Page 11

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von Volker Schlepütz

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krochen sie aus den Betten hervor, nach Orientierung suchend, denn das Gift hielt sie immer noch in einem Zustand der Benommenheit. Sie schauten fragend aus den Fenstern und sahen nur noch drei Busse, die neben dem Verwaltungsgebäude aufgefahren waren. Und wieder ertönte diese schrille Lautsprecheransage:
DIE SCHNEEMÄNNER HABEN SICH AUGENBLICKLICH AUF DEM PLATZ VOR DEM VERWALTUNGSGEBÄUDE ZU BEGEBEN!
Fünf Minuten später hatten sie sich versammelt, einige rieben sich noch die Sandkörner aus den Augen, andere schauten sich fragend um und hofften, auf ein ebenfalls fragendes Gesicht zu stoßen, dass ihnen das Gefühl von Verbundenheit gab. Dann suchten sie nach Thea und Gereon, die beide in der hintersten Reihe standen. Aber auch in ihren Gesichtern konnte sich nichts ablesen lassen, was ihnen für den Moment Kraft gab. Und alle sahen auch, dass einige Kinder nicht mehr unter ihnen waren wie auch einige Erwachsene Fugoten.
Sie warteten eine Stunde lang in der frühen Morgensonne und nichts passierte. Einige hatten sich aus Müdigkeit auf den Boden gesetzt, jedenfalls für einen Moment, denn sofort sprang ein Mann im schwarzen Anzug zu ihm hin und befahl ihm wütend, er solle aufstehen, das Hinsetzen aus eigenem Antrieb war nicht erwünscht. Warum diese Strenge?, fragten sich einige Fugoten, es sollte doch eine Talentsichtung sein, der eine Zuteilung zu Experten des Landes folgen sollte. War diese Kaserne nun ein Zentrum des Geheimdienstes? Sie standen eine weitere Stunde in der nun heißer werdenden Sonne und Scheißperlen zogen auf die Stirn der Fugoten. Dann endlich kamen vier Männer mit schwarzen Anzügen auf den Hof. Drei von ihnen trugen Klapptische und Stühle und bauten sie vor dem Gebäude auf. Es war die gleiche Tischreihe, die sich auch vor dem Regierungsgebäude befand, als sie sich registrieren sollten.
Ein Mann im schwarzen Anzug trat vor die Schneemänner und lief jeden einzelnen Schneemann ab, dabei ging er um jeden herum und roch an ihnen, schaute ihnen tief ins Gesicht und ging zum nächsten über, bis er alle auf diese Weise inspiziert hatte. Dann ging er zurück und stellte sich vor der Tischreihe auf mit Blick zu den Fugoten.
Ich habe in einem eurer Gesichter Angst erkennen können, sprach er die Schneemänner an und ich habe auch keinen Angstschweiß an euch gerochen, nur einen normalen Schweißgeruch von zwei Tagen Busfahrt und einer Nacht in den Baracken. Aber ihr solltet Angst haben, denn hier ist vorerst Endstation für euch. Eure Talente haben uns überhaupt nicht interessiert, sprach er weiter und lachte dabei die anderen drei Männer mit den schwarzen Anzügen zu, die darauf heftig nickten und ebenfalls schmunzelten. Ihr werdet hier nichts Anderes machen als eine Straße durch den Wald zu schlagen, solange, bis die Regierung andere Pläne für euch hat. Die Straße soll diese Kaserne mit einem Industriegebiet verbinden, wo zahlreiche neue Fabriken entstehen. Denn ich will es gleich ganz ehrlich zugeben. Wir waren nie an euren Talenten interessiert, sondern wir wollen euch das Tanzen in der Öffentlichkeit austreiben und das Sprechen unmöglich machen. Dazu werden wir euch die Zunge abschneiden, sobald die Straße fertig ist. Bis dahin habt ihr Gelegenheit, euch alles zu sagen, was ihr euch noch zu sagen habt. Wir sind ein humanes Volk und achten sehr darauf, dass die Befehle der Regierung so menschlich wie möglich ausgeführt werden.
Die Fugoten blieben stumm auf ihren Beinen stehen, in ihren Gesichtern zeigte sich auch mit diesen Sätzen keine Anzeichen von Angst. Denn die Fugoten waren vollständig schmerzunempfindlich. So waren sie auch nicht durch diese abgründige Perspektive des gewaltsamen Entfernens der Zunge nicht sonderlich erschreckt.
Dann schrie der Mann im schwarzen Anzug:
Durchzählen, du fängst mit eins an, dabei zeigte er auf Gereon, die links außen in der letzten Reihe stand und du bist zwei und du bist drei, befahl er den neben Gereon stehenden Schneemännern.
Eins-Zwei-Drei…gaben die Fugoten laut, bis der letzte von ihnen mit 177 endete. Es waren also 23 Fugoten ermordet worden, schlossen die Fugoten aus der Abzählung. Einige Frauen versuchten, ihre Tränen zu verbergen, denn ob es nun schon viele Male in der Vorbereitung trainiert wurde, eine solche Situation frei von Trauer durchzustehen, stieß dann am Ende doch auf Grenzen, die jeder Mensch verstehen konnte. Es war nun einmal so, allen Fugoten war klar, dass der große Plan nicht unter Schmerzen durchführbar war, und daher sollten sich das besonders die Mütter von ihren unter sieben Jahre jungen Kindern immer wieder ins Gedächtnis rufen, egal wie schwer es auch war, diese Gräueltaten zu bewältigen. Es war der große Plan, den es zu verfolgen galt und für den man bereit war, auch zu sterben.
Zufrieden wiederholte der Mann im schwarzen Anzug das Ergebnis der Zählung:
177 Schneemänner, das ist ja kolossal, grandios. Bravo, sprach er und klatschte zum Applaus in die Hände, eine ganze Minute lang. Dann brach der absurde Applaus ab und eine Strenge durchzog das Gesicht des Mannes im schwarzen Anzug. Wie ein neuer Song, änderte er seine freundlich vorgespielte Sprach und wurde sehr wütend:
Ihr seid ein Haufen Scheiße und wisst ihr, dass ich nur meine eigene Scheiße riechen kann, nicht aber eure? Habt ihr eine Idee, was ihr dagegen tun könnt? Ich sage es euch. Ihr könnte überhaupt nichts daran tun, selbst wenn ihr stundenlang mit Seife und Puder eingerieben werdet, stinkt ihr dennoch nach Scheiße, denn ihr seid nun mal ein Haufen Scheiße. Wenn es nach mir ginge, würde ich euch alle lieber jetzt als gleich im Vulkansee ertränken, wie wir auch schon einen Teil eurer Kinder ertränkt haben und die, die zu dämlich sind, auch nur einen ganzen Satz richtig zu sprechen. Aber leider bin ich an die Befehlskette der Regierung gebunden.
Dann drehte er sich zu den anderen drei Männern mit schwarzen Anzügen zu und bedeutete ihnen, sie sollen die Brandeisen zum Glühen bringen. Gleichzeitig brach unter den Fugoten ein Gelächter aus, und sie wiederholten vergnügt, dass sie ein Haufen Scheiße seien. Blitzartig schoss der Kopf des Anführers, wie mit einem Gummiband gespannt zurück zu den Schneemännern.
Euch wird das Lachen noch vergehen, wartet nur ab. Dann marschierte er auf einen beliebigen Schneemann zu und schoss ihm hinterrücks ins Genick, so dass er zu Boden sank und

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