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die besten Züge zu finden, um diesen Plan zu verwirklichen. Und Daniel Leberzeck war darin der beste. Er war die Nummer eins in der Flexibilität, die Situation korrekt zu bewerten und den besten Plan zur Bewältigung zu finden. Sein Tod war sehr unwahrscheinlich eingeschätzt worden, aber nun war der Fall eingetreten, und bereits jetzt dachten Geron, Thea und Pascal über die klügsten Optionen nach, auch wenn sie getrennt waren. Es würde sich schon eine Möglichkeit ergeben, dass sie trotz Kontaktverbot und Isolation dennoch ein Kommunikationsnetzwerk errichten konnten, um gemeinsam an dem großen Plan zu arbeiten. Dazu hatten sie sich eine Fingersprache überlegt, der wie eine Gebärdensprache in Miniaturform ausgearbeitet und entwickelt wurde, schon lange, bevor sie der Internierung ausgesetzt waren. Jeder der zehn Finger konnte eine Vielzahl von Bewegungen ausführen, die wie eine Flaschenpost von einem Sender zum Empfänger kettenförmig an den Empfänger hangelte, der die Nachricht erhalten sollte. Dabei kam den Fugoten jetzt schon zu Gute, dass sie eine Nummer auf der Stirn eingebrannt bekommen hatten. Daher war es sehr einfach, den Empfänger der Nachricht mit den Händen zu benennen und dann die Nachricht an ihn weiterzuleiten. Von außen war es kaum zu durchschauen, dass auf diese Art und Weise eine Kommunikation in den Wäldern bei der Arbeit möglich war. Die Finger konnten von allen möglichen Ursachen zu zittern und Bewegungen ausführen, die von den Männern mit den schwarzen Anzügen nicht zu entschlüsseln waren, selbst wenn sie hinsahen. Auch die Dichte des Waldes und die damit verbundene Dunkelheit half dabei, dass dieses Fingerspiel nicht auffliegen konnte. Auch wenn nicht alles perfekt war und ein minimales Restrisiko bestand, so war es der einzige Plan der Fugoten, die Welt zu retten. Und das gab ihnen so viel Motivation, dass sie selbst ihre Kinder unter sieben Jahren dafür in den Tod schickten. Sie hatten die Geschichte des Dritten Reiches gelesen, sie waren mit dem Schreckenssystem der Naziherrschaft vertraut und hatten aus dem Holocaust gelernt. Sie hatten keine Angst davor, dass der Plan scheitern könnte. Sie hatten gegenüber den Juden zwei Vorteile: Erstens, Tod und Schmerz war für sie kein Problem. Das verhinderte Panik und Angst unter ihnen und machte sie stark für kluge Entscheidungen, denn aus Angst heraus traf man keine guten Entscheidungen. Zweitens: Sie hatten einen Plan und er war realistisch. Drittens: Sie waren organisiert und konnten über die Fingersprache miteinander in Kontakt treten und gemeinsame Entscheidungen treffen. So sahen sie ihrer Internierung mit Gelassenheit, Mut und Durchhaltewillen entgegen, was auch immer geschehen würde.
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Die Arbeit in den Wäldern begann am nächsten Morgen, es war ein verregneter Tag, bereits in der Nacht hatte ein schwerer Regen eingesetzt, der den Platz vor dem Verwaltungsgebäude in einen schlammigen Boden verwandelte. Die Fugoten standen zum Appell knöcheltief im Matsch mit ihren dünnen Leinenschuhen, die kaum in der Lage waren, ausreichenden Schutz zu gewähren. Hingegen standen die Busfahrer und die Männer mit den schwarzen Anzügen auf Holzbohlen, die sie ausgelegt hatten, um mit Gummistiefeln und dicken Regencapes fest auf den Bohlen und geschützt vor Nässe zu stehen und Befehle auszurufen. Am Abend zuvor hatten sich die Fugoten vollkommen erschöpft von dem stundenlangen Stehen auf dem Platz in ihre Zimmer zurückzuziehen, die spärlich eingerichtet waren. Es gab keine Gardinen an den Fenstern, keine Teppiche auf den Böden, keine Bilder an den Wänden. Es gab nur einen Tisch, einen Stuhl, ein Bett und ein Fenster, das man öffnen konnte. Das war der einzige Luxus, den man den Bewohnern zusprach, ein Fenster, dass man öffnen konnte, um herauszuschauen und frische Luft einzuatmen. Es gab auch nur eine große Neonröhre, die Licht spendete, solange sie an war. Um 20 Uhr am Abend wurde von den Männern mit den schwarzen Anzügen der Strom der Baracken abgeschaltet. Erst um fünf Minuten vor sechs Uhr in der Früh wurde der Strom wieder angeschaltet. In den Matratzen der Betten war ein Drahtgeflecht eingenäht, das mit dem Stromkreis verbunden war. So wurden die Fugoten jeden Morgen um fünf Minuten vor sechs Uhr mit einem Stromstoß aus den Betten geworfen. Nun standen sie im triefenden Regen vor den Männern mit den schwarzen Anzügen, die sich in aller Ruhe Zigaretten in ihre schmallippigen Münder gestopft hatten und rauchten. Und sie rauchten eine ganze Stunde lang unter ihren Capes und lachten ab und zu auf, wenn einer einen Schneemannwitz erzählte. Einer ging so: Geht ein Schneemann zur Sonne, fragt die Sonne: Was machst du hier vor meiner Tür? Ich wasche Ihnen das Gesicht und verschwinde dann. Ha, ha, und verschwinde dann, der war gut. So lachten und rauchten sie eine ganze Stunde und erzählten sich einen Witz nach dem anderen. Endlich drückte der Wortführer unter den Männern mit den schwarzen Anzügen seine letzte Zigarettenkippe mit dem Fußballen aus und trat zwei Schritte nach vorne auf eine zur hinteren Bohle längs gelegte Bohle. Sprecht mir nach, ihr Schneemänner: Wir wollen heute fleißig arbeiten. Wie ein entferntes Echo murmelten die Fugoten den Satz nach, der ihnen befohlen wurde. Ich habe nichts gehört, ihr Scheißkerle. Also noch Mal, ihr Haufen Gesindel, aber lauter. Das Gemurmel setze wieder ein und wurde tatsächlich auf den letzten Silben lauter.
Noch Lauter, ihr verdammten Mistkerle, lauter, viel lauter.
Wir wollen heute fleißig arbeiten, setzen die Fugoten nun doch erkennbar lauter an. Aber es war dem Wortführer immer noch zu leise.
Ich will es so laut hören, dass mir die Ohren wehtun, also ein letztes Mal, sonst geht einer von euch in den Vulkansee.
Die Fugoten schrien nun aus vollem Hals so laut sie konnten den Satz nach. Danach setzte eine unheimliche Ruhe ein. Der Mann im schwarzen Anzug bliebt stumm vor ihnen stehen und kehrte nach etwas zwei Minuten wieder um. Dabei schoss zunächst wieder sein Kopf, wie von einem Gummiband mit dem Rumpf verbunden zuerst nach hinten, dann erst folgte der Körper. Wieder verging eine ganze Stunde. Dieses Mal aber gingen die Männer mit den schwarzen Anzügen in das Verwaltungsgebäude zurück und spielten Karten. Die Fugoten standen weiterhin wie Puppen im strömenden Regen und warteten. Keiner von ihnen gab einen Ton von sich, keiner suchte