Das Volk der Fugoten - eine Erzählung - Page 16

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von Volker Schlepütz

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lebten und arbeiteten die Fugoten nun schon mehr als vier Wochen, und jede Woche starb einer an Erschöpfung, meistens die Alten. Auch war einer dabei, der das fünfundsechzigste Lebensjahr erreicht hatte und im Vulkansee ertränkt wurde. Auch einige Frauen waren schon im See ertränkt worden, als den Männern mit den schwarzen Anzügen aufgefallen war, dass sie schwanger waren, denn trotz aller Aufsicht und Kontrolle gelang es ihnen nicht, den Geschlechtsverkehr zu verhindern, zu dem sich einige Fugoten hingerissen fühlten, um wenigstens dadurch ein Glücksgefühl zu empfinden. Gemäß Beschluss hatten schwangere Frauen sofort im See ertränkt zu werden, das wusste das Volk, und so war es der Verantwortung der Bewohner überlassen, Geschlechtsverkehr auszuüben. Und da es keine Kondome gab, war der sexuelle Akt stets ein großes Risiko für die Frau und auch für den Mann, der der Schwangerschaft mitschuldig war. Einige Männer sprangen einige Tage, nachdem ihre Geliebte ertränkt worden war, selbst freiwillig in den See und tauchte nicht wieder auf, so stark war der Sog in die Tiefe des Sees. So waren von den ursprünglich 178 Fugoten nur noch 149 übrig bis an dem Tag, an dem die Männer mit den schwarzen Anzügen beim Morgenappell einen neuen Regierungsbeschluss verkündeten. An diesem Tag kam anstelle des Lastwagens, der Lebensmittel für die kommende Woche lieferte, um 5:50 Uhr in der Frühe ein siebentüriger schwarzer Mercedes. Fünf Männer in schwarzen Anzügen mit Schulterabzeichen stiegen aus und gingen ins Rathaus. Es waren die ranghöchsten Generäle im Land 8, und wenn sie anreisten, dann stand es nicht zum Besten für die Fugoten. Einer der Männer mit den schwarzen Anzügen trat auf die Veranda der Villa neben dem Rathaus und verkündete mit strenger Mine, was ihm von der Zentrale zu verkünden aufgetragen hatte:
Für Euch ist hier die Arbeit beendet, die Straße wird von Männern aus unseren Reihen fertiggestellt, ihr habt keine Zukunft mehr hier in er Kaserne, ihr werden auch nicht in der Fabrik arbeiten, ihr werdet um genau 8:00 Uhr abtransportiert. Wohin, müsst ihr nicht wissen, es gibt für Euch keinen Platz mehr, nicht hier, nicht in diesem Land, in keinem Land seid ihr erwünscht. Den einzigen Platz, den es für Euch gibt, von dem sich durch Euch niemand gestört oder belästigt, beängstigt wird, steht noch nicht fest. Die Fahrer der Transportzüge werden im Laufe des Tages ihre Instruktionen von der Zentrale erhalten. Nun geht zurück in Eure Zimmer und packt Euer Gut und Habe zusammen, die Baracken werden demnächst abgerissen, hier soll neues Forschungszentrum entstehen, um den neuen Rohstoff nutzbar zu machen. Wir, soll heißen, unsere Forscher haben den Rohstoff entschlüsselt und wissen nun, wie er das Klimaproblem lösen kann. Euch brauchen wir dazu nicht mehr. Es gibt daher auch keinen Krieg gegen unser Land.
Als der Mann mit dem schwarzen Anzug das verkündet hatte, eilte er ins Rathaus und unterschrieb einige Dokumente, die an die Fahrer der Lastzüge ausgehändigt wurden, es waren Frachtpapiere, Zollerklärungen und eine Abrisserklärung für die Kaserne. Und da das Land 8 nun die Entwicklungsstufe 4 erreichen würde, waren sie nun auch Herrscher über alle anderen Länder. Die Zentrale betrachtete sie nun als nutzloses Volk und eine Schande für das Land. Sie sprachen eine andere Sprache, sie hatten eine abstoßende Art zu tanzen und sie waren schneeweiß, Menschen, die aussahen wie Schneemänner und sich merkwürdig ausdrückten und tanzten. Die Rassenkonferenz hatte die übrigen Länder aufgefordert, darüber zu entscheiden, ob sie Fugoten bei sich aufnehmen sollten. Aber keines der Länder hatte Interesse an ihnen. Es war nun dem Land 8 überlassen, sie verschwinden zu lassen, dorthin, wo niemand mit ihnen in Berührung kam. Es gab nur zwei kleine Inseln im Südpazifik, die staatenlos waren, aber diese standen seit einigen Wochen zur Ausschreibung. Sie konnten ersteigert werden unter der Auflage, sie zu besiedeln und Fabriken zu bauen, je nachdem, wer den Zuschlag erhielt. Deshalb gab es also keinen Ort für das ungeliebte Volk. Es war also beschlossene Sache: Die Kaserne sollte einfach verschwinden und mit ihnen die Fugoten. Die Fugoten auf dem großen Platz erstarrten und schauten sich gegenseitig erschrocken an, selbst die nicht zu Emotionen neigenden Thea und Gereon schauten erschrocken, vielleicht das erste und zugleich auch das letzte Mal. Einige Frauen begannen zu weinen, andere schrien und liefen in Richtung See und ließen sich auf die Wiese fallen. Sie gruben ihre Gesichter in den Rasen ein und falteten ihre Hände zum Gebet. Einige Männer gingen zu ihnen und trösteten sie, gaben ihnen Zuversicht, dass sich alles zum Guten wenden würde, schließlich hätte der Mann mit dem schwarzen Anzug ja kein Todesurteil gesprochen, sondern nur eine Reise an einen sicheren Ort angekündigt, wo sie niemanden störten, aber wo auch sie keiner stören konnte. Das sei doch eine gute Perspektive.
Eine Reise?, schrie Martha Johann an. Was für eine Reise meinst Du? Aber da kamen schon zwei Männer mit den schwarzen Anzügen und rissen sie auseinander.
Ihr da, Ihr verstoßt gegen das Versammlungsverbot. Wenn ihr nicht augenblicklich in Eure Zimmer geht, werdet Ihr im See ertränkt, herrschte einer dieser Männer die beiden an, während der andere schon dabei war, sie voneinander fernzuhalten.
Beide verstummten sofort, die Frau schluchzte weiter, und der Mann gab den Widerstand auf. Beide gingen sie getrennt in ihre Zimmer, nur mit einem Blickaustausch, der bedeuten sollte, es werde schon gut ausgehen. Während dieses Zwischenfalls hatten sich die anderen Fugote schon in ihre Zimmer zurückgezogen und kramten in ihren Sachen, was sie für den Transport mitnehmen wollten, was ihnen unverzichtbar erschien und in ihren Rucksack passte. Alle hatten einen Rucksack, weil es ein Volk war, dass stets der Gefahr ausgesetzt war, fliehen zu müssen, egal wo sie sich aufhielten. Sie waren von nun an auf der Flucht von allen Menschen, die nicht ihrer Rasse waren. Daher hatten sie auch nie Besitz angehäuft, sondern lebten mit dem Allernötigsten. Deswegen mussten sie auch nichts zurücklassen. Das war ein stiller Trost, den jeder für sich so empfand. Und vor dem Transport hatten sie keine Angst, denn sie betrachten es lediglich als eine Reise. Nur die Frau, die sich auf die Wiese hatte fallen lassen,

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