Das Volk der Fugoten - eine Erzählung - Page 15

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von Volker Schlepütz

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Jahr dauern.
An diesem Tag passierte nicht mehr viel. Die Einteilung in Kolonnen war abgeschlossen, am nächsten Tag sollte die Arbeit beginnen. So wurden die Fugoten in ihre Zimmer befohlen und es endete der erste Tag in der Kaserne. Auch Hugo hatte sich mittlerweile von der Sonderbehandlung wieder erholt und hockte in seinem Zimmer auf dem Stuhl und dachte darüber nach, ob er sich aufhängen sollte. Denn für ihn war ein solcher Arbeitstag undenkbar. Er würde schon nach einer Stunde Baumfällen vor Erschöpfung umfallen. Und was wäre dann? Er würde wieder mit dem Gesicht in den Erdboden gedrückt, von einem Stiefel der Schwarzmänner. Und nicht jedes Mal würde ihm ein Kind helfen, die Erstickung zu verhindern. Ob er nun im Wald sterben würde oder hier, war für ihn ein großer Unterscheid. Das Volk der Fugoten war zu stolz, um sich auf diese Weise erniedrigen zu lassen und von einem Schwarzmann erstickt zu werden. So knotete er aus dem Bettlacken einen Strick, knotete in sich um den Hals und befestigte das andere Ende des Lackens an der Heizung. Dann bekreuzigte er sich und stürzte sich aus dem Fenster, so dass ihm das Genick brach.

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Am nächsten Morgen wurden die Fugoten auf den Vorplatz des Verwaltungsgebäudes befohlen. Der Leichnam von Hugo hing immer noch in der Schlinge des Bettlakens, während die Fugoten auf dem Platz standen und betroffen aus den müden Gesichtern schauten. Die wenigsten hatten mit dem Selbstmord von Hugo gerechnet, am wenigsten die Kinder, denen man diesen stumm und still hängenden Toten zumutete.
Dann trat der Wortführer der schwarzen Anzugmänner auf den Hof und begann höhnisch zu lachen.
Da steht ihr nun, dreht euch ruhig um und seht, wie euer Bruder dort hängt, feige wie er war, sich umzubringen. Euch ist klar, dass ihr ihn nun mit Mehrarbeit ersetzen müsst. Ich lasse ihn den ganzen Tag dort hängen aus Strafe dafür, dass unter euch dieser Feigling war.
Einige Frauen unter den Fugoten begannen aus Trauer und Wut zu weinen, und da sie schon weinten und sich damit der Gefahr aussetzen, bestraft zu werden, flehten sie den Wortführer an:
So habt doch Gnade!
Der Wortführer aber entgegnete überraschend ruhig und ohne Anzeichen, die am lautesten flehende Frau zu erschießen oder anzumaulen:
Gnade? Ihr verlangt Gnade? Ihr müsst euch meine Gnade teuer verdienen, oder glaubt ihr, wir haben Mitleid mit Euch. Euer feiger Bruder soll dort drei Tage und drei Nächte hängen, bis auch der letzte von Euch verstanden hat, dass ihr einen Auftrag für die Regierung zu erfüllen habt, nämlich eine Straße durch den Wald zu schlagen. Wer sich mit dem Freitod weigert, der bleibt dort der Tage und drei Nächte hängen. Wer von Euch dann immer noch Lust hat, sich umzubringen, der soll es tun.
Natürlich wollte kein weiterer Fugote Hugo folgen, doch brannten ihnen alle die Seele. Es war nicht möglich, sich zur Wehr zu setzen, sie waren nicht in der Lage, die Anzugträger zu überwältigen, am Tag schon gar nicht, denn sie waren bewaffnet. So blieb den Fugoten nichts Anderes übrig, als diese menschenunwürdige und zu tiefst verachtende Macht über sich ergehen zu lassen. Auch in der Nacht war es nicht möglich, denn die Anzugmänner schliefen in den Villen rechts und links neben dem Verwaltungsgebäude hinter verschlossenen Eisentüren und vergitterten Fenstern, um sich zu schützen. Es versteht sich von selbst, dass die Villen nur nach außen wie Gefängnisse aussahen, jedoch innen großräumig und mit feinsten Möbeln ausgestattet waren. Auch Gereon und Thea sahen keine Chance für eine gewaltsame Befreiung. Und selbst wenn sie es schaffen würden, sie zu überrumpeln und zu töten, wäre das nicht der richtige Plan. Es bestand immer noch die Hoffnung, dass die Erforschung des neuen Rohstoffes nicht vorankam und der Krieg gegen das Land 8 die Regierung stürzte und die Fugoten aus der Gewalt der Männer mit den schwarzen Anzügen befreite. So grausam die Anzugmänner auch waren und so schwer es fiel, diese Menschenverachtung zu erleben, sie mussten an ihrem großen Plan festhalten und in jeder Minute besonnen bleiben.
An diesem Morgen rollte der wöchentliche Lastwagen auf den Platz vor dem Verwaltungsgebäude, und die Fahrer stellten Paletten heraus. Die Fugoten mit den Brandzeichen eins bis zehn mussten die Lebensmittel an restlichen Fugoten verteilen. Es war dem Volk per Beschluss nicht erlaubt, Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen, sondern sie mussten sie jeder für sich alleine in den Zimmern der Baracken einnehmen. Zu diesem Zweck gab es in jedem Zimmer eine Kochplatte, eine Spüle mit Wasseranschluss für kaltes Wasser und eine kleine Kühlbox. Selbst die Kinder waren mit solchen Zimmern ausgestattet. So lebten die Fugoten wie Häftlinge in Einzelzellen mit dem einzigen Unterschied, dass ihre Fenster nicht vergittert waren, sondern geöffnet werden konnten, um frische Luft einzuatmen. Auch war mit Ausnahme der Arbeit an der Straße und dem Morgenappell jede Art der Versammlung untersagt. Die tägliche Schichtarbeit wurde von einem Trupp von Sicherheitsmännern überwacht, die von den Männern mit den schwarzen Anzügen dazu ausgebildet worden waren. Sie schulterten Gewehre und hatten Stöcke in den Halftern, mit denen geschlagen werden konnte oder die Stromstöße auslösen konnten. Außerdem hatte jeder einen trainierten Schäferhund stramm an der Leine. Jede Schicht musste die Straße um mindestens fünfzig Meter verlängern. Wenn dieses Ziel verfehlt wurde, fiel für alle das Abendessen aus. Sie durften nicht in ihre Wohnungen gehen, sondern sollten bis zum nächsten Morgen auf dem großen Platz sitzen und einen Abstand von mindestens fünf Meter einhalten. Es war ihnen verboten sich anzuschauen. Wenn zwei beim Anschauen ertappt würden, bestand die Strafe darin, dass der ältere der beiden den anderen mit einer Schlinge erdrosseln musste. Weigerte er sich, wurde er erschossen. Wer schlafen wollte, bekam eine Decke und ein Kopfkissen. So war jedem einzelnen bewusst, dass er hart zu arbeiten hatte, wenn er nicht schuld daran haben sollte, dass alle derart bestraft würden. Dies führte zu einer Selbstorganisation der Fugoten derart, dass jedem eine Aufgabe neu zugewiesen wurde, die er am besten und am effizientesten verrichten konnte, wer Holz fällen, wer Teer mischen und wer Steine zerschlagen sollte. Nur mit einer solchen Arbeitsteilung konnten die fünfzig Meter Straße pro Tag geschafft werden.
So

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