Während meine Mutter zur Arbeit ging, um sich dort zusammen mit ihrer Chefin ein wunderbares zweites Frühstück einzuverleiben, trabte ich mit diesem Monster von Gipsarm, viel Gefühl für den Operateur, Herrn Dr. Vogel, und mächtiger Wut im kleinen Herzen auf meine Mutter, die mir den nicht unerheblichen Eingriff verschwiegen hatte, Richtung Schule – in angemessener Gangart, sprich: ausgesprochen langsam, versteht sich; denn dort wartete unser Vertretungslehrer (Frau Nollen war im Mutterschaftsurlaub - leider) mit den Aufgaben einer Englischarbeit, die ich "mit links hätte schreiben müssen“, obwohl ich als Rechtshänderin derlei Affigkeit noch nie zuvor ausprobiert hatte. Ich nahm jedoch leichtsinnigerweise an, dass man mir diese Qual aufgrund des vor wenigen Minuten erfolgten chirurgischen Eingriffs ersparen würde.
Pustekuchen! - Lehrer G., unbeeindruckt von dem Schock, den ich vor gut vierzig Minuten erlitten hatte, meinte, es wäre ja wohl ein Klacks für mich, das Diktat mit der linken Hand mitzuschreiben, weil ich ja so gut in Englisch sei. Ich sah mich außerstande zu protestieren; dieses Rindvieh teilte bereits die Arbeitshefte aus. Es war die Hölle, kann ich euch sagen – ich konnte selbst kaum lesen, was ich schrieb, obwohl ich nur Druckbuchstaben auf die Seiten kritzelte. - Ich erwartete eine glatte Fünf, aber es wurde eine Zwei minus; anscheinend war an G. ein Schriftexperte verloren gegangen; trotzdem war ich war ausgesprochen sauer, weil ich in diesem Diktat mit Leichtigkeit eine Eins hätte schreiben können.
Die Nächte, die auf den Tag der Operation folgten, waren die Hölle. Ich schlief keine Nacht durch, lag vielmehr stundenlang wach und machte mir Gedanken darüber, wie ich das Jucken unter dem verdammten Gips eindämmen könnte, ohne dass die Narbe aufplatzte. Eines Nachts schlich ich in die Küche, schnappte mir eine Gabel aus der Bestecklade und versuchte, sie unter den Gips zu schieben. Es funktioniert nicht, das Monster umschloss meine Hand wie ein eiserner Händedruck.
„Da musst du durch“, sagte meine Mutter ungerührt, obwohl ich morgens vor lauter Müdigkeit kaum noch aus den Augen gucken konnte und wie gerädert in die Schule wankte.
Nach knapp vier Wochen ließ das Jucken nach, und ich war fast schon wieder „die Alte“, scherzte mit meiner Freundin und las im Matheunterricht mein unter der Bank verborgenes, superdickes und äußerst spannendes Buch weiter: 'Krieg und Frieden' von Leo Tolstoi, anderenfalls wäre mir womöglich auch noch in Mathe 'ein Licht aufgegangen', was ich allein schon wegen des fiesen Lehrers, den ich auf den Tod nicht leiden konnte, verhindern wollte.
Es war ein Mittwoch, an dem Linda (Name geändert) mich für den Nachmittag zu sich nach Hause einlud. Meine Freundin Uschi musste mit ihrer Mutter zum Arzt, weshalb ich Lindas Einladung annahm, allerdings mit halben Herzen, denn das Mädchen war mir nicht ganz geheuer. Nachdem wir in ihrem Zimmer die Hausaufgaben erledigt hatten, gingen wir nach draußen. In einen herrlich warmen Herbsttag. - „Wir könnten mal nachsehen, was auf dem Spielplatz los ist“, sagte Linda mit einer merkwürdigen Stimme, die mich hellhörig machte; aber weil ich nicht wusste, was ich sonst mit ihr anstellen sollte – wir hatten wenig Gemeinsamkeiten – stimmte ich zu. Wir hatten die kleine, von Büschen und Sträuchern gesäumte Einfahrt zum Spielplatz gerade hinter uns gelassen hatten, als ich sie entdeckte: Annelie II., meinen Quälgeist. Ich hätte am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht, wollte jedoch nicht als feige gelten, geschweige denn, mir vor Linda eine Blöße geben; deshalb ging ich scheinbar seelenruhig auf das Monster zu. Kaum hatte dieses beschränkte Geschöpf mich erblickt, kam es auch schon wie ein wilder Stier auf mich zugestürzt und wollte mir ins Gesicht schlagen.
Ich hatte mich bislang gegen ihre fiesen Attacken so gut wie nicht gewehrt, weder physisch noch verbal, weil ich wusste, dass ich körperlich schwächer war und nicht die geringste Chance gegen sie hatte; aber diesmal hob ich die linke Hand und versuchte, ihren Angriff abzuwehren. Es brachte so gut wie nichts. - Mein Blick fiel auf Linda, die blöd daneben stand und grinste, anstatt mir beizustehen, und in diesem Moment packte mich alle Wut der Welt. Ich hob meinen Gipsarm, der nach wie vor voluminös und ausgesprochen solide war, und schlug ihre Faust weg, die meinen Kopf traktieren wollte. Annelie II. guckte ziemlich entgeistert aus der Wäsche. Ich werde diesen Gesichtsausdruck, den ich niemals zuvor an ihr wahrgenommen hatte, mein Lebtag nicht vergessen.
Ich hatte nicht allein Angst davor, Annelie II. ernsthaft zu verletzen, sondern befürchtete außerdem, dass meine Narbe aufplatzen könnte, deshalb blieb ich in Abwehrhaltung und hoffte darauf, dass meine Gegnerin aufgeben würde. Um uns herum hatten sich sämtliche Kinder versammelt, die sich bereits vorher auf dem Spielplatz eingefunden hatten und feuerten uns an. Linda war die ganze Zeit am Grinsen und ich wusste, dass es das letzte Mal war, dass ich dieses falsche Luder besucht hatte.
Annelie II. hörte nicht auf, mich zu attackieren, obgleich ihre Mutter im Häuserblock gegenüber das Fenster aufgerissen hatte und in einer Tour zu uns herüberschrie: „Hör auf, Annelie, komm sofort nach oben!“ Annelie II. dachte nicht im Traum daran, der Aufforderung ihres Mütterchens Folge zu leisten. Sie drosch nach wie vor wie ein 'besengter Eber' auf mich ein, als wolle sie mich unter allen Umständen zur letzten Ruhe betten. Kurz zuvor hatte sie noch in die Runde geblickt und verlauten lassen: „Oh, die hat einen Gipsarm.“ - Für meine Begriffe hatte sie das ziemlich spät gecheckt.
Annelie II. holte zu einem erneuten, mächtigeren Schlag aus, der wiederum meinen Kopf treffen sollte, von dem mein Gipsarm und ich wussten, dass wir nicht auf ihn verzichten wollten, deshalb schnellte meine etwas angeschmuddelte, mit mehreren Namenszügen versehene Waffe wie ein überdimensionaler, untersetzter Degen vor und knallte ihren angriffslustigen Arm weg. Das tat weh – endlich! - Sie verzog ihr Gesicht – und griff mich erneut an. Meine Feindin war 'von Kopf bis Fuß auf Hiebe' eingestellt; aber der Gips wehrte ganz famos jede Attacke ab und fügte ihr währenddessen einige Schmerzen zu, die nicht unerheblich waren. Es ging leider nicht anders.
Ich stand kurz vorm Sieg. - Ein letzter Hieb meines Gipsarms gegen ihren dicken Unterarm, mit der letzten Kraft, die ich besaß, entschied den Kampf zu meinen Gunsten: Sie wandte sich von mir ab und trottete wie ein verletzter Stier über den Spielplatz jenem Haus entgegen, darin ihre Mutter vom Fenster aus die Niederlage ihrer ungehorsamen Tochter miterleben durfte. Ich hoffte sehr, dass ich ihrem Mütterlein mit meinem „Sieg“ einen nachhaltigen Gefallen erwiesen hatte.
Linda ließ ich links liegen und machte mich erhobenen Hauptes auf den Heimweg. Nach dieser denkwürdigen „Schlacht an der Elbe“ lief Annelie II. mir nur noch wenige Male über den Weg. Es wurde Winter – und bei jeder Begegnung - ich machte ihre plumpe Gestalt schon von weitem aus, positionierte ich meinen rechten Arm napoleonlike und steckte meine Hand tief zwischen Knopf und Knopf in die Jacke, als hätte ich nach wie vor einen Gipsarm. Annelie II. fiel prompt darauf rein und machte jedesmal einen großen Bogen um mich. - Armes, dummes Luder! Dann, von einem Tag auf den anderen, traf ich sie nicht mehr; wahrscheinlich hatte sie ein neues Opfer gefunden und ging andere Wege, oder sie hatte sich verliebt und war zahm geworden.
Dr. Vogel nahm mir zwei Wochen später den Gips ab. Danach schmerzte meine rechte Hand zwar keinen Deut mehr, dafür fing die linke mit diesem Theater an. Ich verschwieg die Schmerzen, die urplötzlich mein linkes Handgelenk befallen hatten. Nur Uschi wusste davon. - Ich war wirklich nicht scharf darauf, der linken zu gewähren, was die rechte hat durchmachen müssen. Meine linke Hand wusste ja nicht, was ihr blühen würde, sie war lediglich neidisch – auf einen schnöden Gips, das muss man sich mal vorstellen.
Die Schmerzen vergingen mit der Zeit – wie fast alle Schmerzen auf dieser Welt irgendwann vergehen. Ich sah Dr. Vogel lange Zeit nicht wieder. Unsere letzte Begegnung fand in jenem Anwaltsbüro statt, darin ich meine Lehre zur Anwalts- und Notariatsfachangestellten absolvierte. Es war das Büro des damaligen Kultusministers von Schleswig-Holstein, Claus-Joachim von Heydebreck, der zwar nie zugegen war, jedoch mehrere Sozii hatte. Wir waren das beste Büro aller Zeiten. Ich wurde sehr nett empfangen und fühlte mich dort ausgesprochen wohl, obgleich ich bald wusste, dass diese Arbeit nicht mein Ding war – und es fiel mir unendlich schwer, drei Jahre lang auszuharren; ich vermisste die Schule über alle Maßen, hätte viel lieber weitergelernt. Als sie fast zu Ende war, hatte ich nämlich entdeckt, wie toll es ist, supergute Noten zu schreiben, mein Interesse war – endlich – geweckt worden, nachdem mich während der gesamten Schulzeit niemand je dazu ermuntert hatte, im Gegenteil: Meine Mutter war leider überzeugt davon, dass eine Heirat für Frauen das Nonplusultra sei, was ich immer noch nicht nachvollziehen kann. Aber ich habe durchgehalten, drei unendlich lange Jahre – und darauf bin ich ein ganz klein wenig stolz, weil mir jene Zeit, obwohl ich mich mit meinen Kolleginnen ganz prima verstanden habe und wir trotz der Arbeit viel Spaß miteinander hatten, wahnsinnig schwer fiel. Ich denke besonders gern zurück an: Ingrid, Uschi II., Kätha, Daniela und Fräulein Orlowsky.
Um auf Dr. Vogel zurückzukommen: Ja, ich sah i h n wieder – nach Jahren – in unserem phänomenalen Büro. Was er dort wollte, darf ich euch leider nicht verraten: Schweigepflicht. Aber er sah noch genauso gut aus wie damals, als er mir den Gips angelegt hat. Er grüßte mich freundlich und warf mir aus seinen wunderschönen braunen Augen einen langen Blick zu.
Das war 's auch schon, liebe Leser. Eine sehr schmale, kaum noch sichtbare Narbe auf meinem rechten Handrücken erinnert mich jeden Tag an den ehemaligen und wunderbarsten Chefarzt aller Zeiten des damals einzigen Krankenhauses in meiner Heimatstadt Glückstadt - und manchmal auch an Annelie II.
heute, am 07.07.2017, geschrieben