20 – Lebenssplitter "Schrebergärten"

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von Heide Nöchel (noé)

Die andere Seite der Rickmersstraße („Bleib da weg! Das ist gefährliches Pflaster!“) war besonders interessant, denn dort war der Eingang in ein grünes Paradies!

Zwischen Hühnerdrahtzäunen und Grünbewuchs öffnete sich der Zugang zu den Schrebergärten. Ein gewundener Weg führte – letztendlich - in einem großen geschwungenen Halbrund wieder auf die Straße zurück, allerdings Anfang und Ende noch im oberen Teil der Rickmersstraße, erst weiter unten begann die „Halbwelt“. (Mich überläuft immer noch eine Grusel-Gänsehaut, wenn ich an den „Blauen Engel“ denke. Ich habe damals extra mehrere „Ausflüge“ in den unteren Teil der Rickmersstraße gemacht, um mir das alles schaudernd und mit großen Augen selbst anzusehen und um meiner reichen Phantasie Nahrung zu geben: Der „Blaue Engel“ war nämlich bis fast auf die Grundmauern abgebrannt. Und etwas so unaussprechlich Verruchtes wie eine Bardame war dabei ums Leben gekommen. Die verkohlten Reste des an einen größeren Kiosk erinnernden Gebäudes standen – in meiner Erinnerung – jahrelang als Mahnmal gegen die Unmoral. Und das direkt vor der Haustür – quasi -, keine Geschichte aus den Illustrierten, nein, eine echte!)

Ich bin gerne über die gefährlich breite Straße zwischen den fahrenden Autos hinüber gehuscht und habe mich von dem Zauber-Zugang zum ungezähmten Grün verschlingen lassen. Und dann ging das Abenteuer los. Für mich kleines Mädchen war das wie eine Expedition in den Urwald, ich erkundete weiße Flecken auf meiner Landkarte und behielt das immer schön für mich.
Neben dem unbefestigten Weg lief auf der einen Seite ein flaches Gewässer entlang mit einer grasbewachsenen, rutschigen Böschung, von oben her überdacht von über blickdichte Bretterzäune hängendem Grün. Der Zugang zu den Gartengrundstücken war auf dieser Seite über Holzstege gegeben – und schon trat ich gedanklich ein in das Land der Burgen mit ihren Zugbrücken über Wassergräben.

Der „Bach“ selber lockte klar-schwarz, an der Oberfläche grün vor lauter Entengrütze, denn viel Strömung war nicht vorhanden. Monets Bilder der Seerosen oder die Japanische Brücke haben mir später diese träumerische Stimmung wiedergebracht, in der ich – Kind – damals am liebsten gedanklich versunken wäre, für mich einfach nur Schönheit und Harmonie.

Diesen Bachlauf schlenderte ich entlang und verlief mich in meinen Träumen von einer (meiner) heilen Welt, freute mich am üppigen Grün der anderen Wegseite (später in der Schule war ich die Einzige die, Spitzwegerich kannte, Huflattich und Sauerampfer), und an dem lebhaften Treiben hinter den Hecken in diesen lustigen kleinen Häuschen.

Dass viele der Bewohner dort aus purer Not hausten, weil sie sich anderen Wohnraum gar nicht leisten konnten, war mir natürlich nicht bewusst; ohne Missgunst beneidete ich sie ihres freien Lebens wegen, dem ich mich so gerne angeschlossen hätte. Dass die Kaninchen, die da niedlich in ihren Ställen mümmelten und von ihren Haltern so liebevoll mit Karotten, Kohlresten, Gras und Kräutern versorgt wurden, eines Tages als Sonntagsbraten auf dem Teller landen würden, sowas war mir undenkbar. Ich schaute verträumt den Winden zu, wie sie die Zäune berankten und sich dem Sonnenlicht öffneten, und verliebte mich in die zarte Buntheit der Wicken mit ihren empfindlichen „Fühlern“, die tastend-suchend sich an allem verankerten, was Halt zu bieten schien, auch an sich selber.

Die Eltern meiner späteren Schul-Freundin Monika, die mir keine war, wie sich noch später herausstellen sollte, hatten an anderer Stelle in Bremerhaven einen Schrebergarten. UND: Der Vater hatte ein "Goggomobil" (eigentlich eine BMW Isetta, wie mich ein Leser jüngst berichtigte, in unser aller Sprachgebrauch damals - wie ich dadurch sehe, fälschlicherweise - stets "Goggo" genannt), eines dieser lustigen kleinen Knutschkugelautos, bei denen man die Vorderfront samt Windschutzscheibe und Lenkrad hochklappen musste, damit man einsteigen konnte. Die gehörten für mich zu den Arrivierten, sie mussten ja unverschämt reich sein bei so viel Luxus! Dass auch ihr Gemüse- und Obstanbau für den eigenen Bedarf ihnen zum Lebensunterhalt diente, kam mir nicht in den Sinn. Ich erlebte nur die Freude aller am Tun in der freien Natur.

Und natürlich schien immer die Sonne in diesen Erinnerungen.

noé/2014

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