Fortsetz. v.03.01.2017; Im Dickicht der Zeichen; Nora Meranes 1. Fall, ein Krimi

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

"Ist Koska verletzt? - Hast d u geschossen, Marc?“
Ich war nicht in der Lage zu rekonstruieren, was sich während der letzten Minuten in Marcs Wohnung abgespielt hatte, so sehr hatte ich mich auf Koska konzentriert, weil ich endlich begriffen hatte, dass Leander Koska mich aus dem Weg räumen wollte. Vermutlich war ich einerseits ein bisschen schwer von Begriff, was ganz 'schwere Jungs' wie Koska anlangte, andererseits war mir noch nie ein auch nur annähernd gefährlicher Mensch wie Leander Koska über den Weg gelaufen. Und das will was heißen, wenn man bereits länger als zehn Jahre Polizeidienst versieht. -
Koska hatte nicht ganz Unrecht: Ich wusste tatsächlich eine ganze Menge über ihn; aber längst nicht genug. Er nahm vermutlich an, dass ich weitaus mehr über ihn wusste, als es faktisch momentan der Fall war. Es musste also noch etwas anderes, etwas sehr Gravierendes in seinem Leben geben, dass ich offenbar unter gar keinen Umständen erfahren sollte, weil es ihm vermutlich außerordentlich schaden könnte. Auf der anderen Seite hatte er zu jenem Zeitpunkt schon genug auf dem Kerbholz, um für mindestens dreißig Jahre ins Zuchthaus zu wandern. Insofern war Koska Illusionist, um nicht zu sagen: ein kompletter Idiot.
„Marc, hast d u auf Koska geschossen“, wiederholte ich meine Frage mit eindringlicher Stimme.
„Wer denn sonst?“, fragte er. „Ihr habt dermaßen laut gesprochen; ich wollte, dass ihr endlich aufhört zu quatschen. - Mein Kopf zerspringt gleich.“
„Das ist Unsinn“, sagte ich. „Mach jetzt bitte keine Witze. Wo ist das Projektil?“
„Im Sofa“, sagte Marc und zeigte auf das Schussloch. Ich ließ mich in den himbeerroten Sessel fallen.
„In meiner Handtasche sind Kopfschmerztabletten“, erinnerte ich mich. „Bedien dich ruhig.“
Santo kam angesprungen, nahm neben mir Platz und legte mir seine Pfote aufs Knie.

„Ich koche uns eine Kanne Kaffee, Frau Merane, falls Sie erlauben“, sagte Herr Kollberg. “Ein Tässchen wird auch Herrn Keppler guttun. Was hat er denn mit seinem Kopf gemacht?“
„Ich bin von der Leiter gefallen, als ich eine neue Glühbirne in die Lampe schrauben wollte“, sagte Marc. „Dabei bin ich gegen den Schrank gefallen.“
„Du brauchst nicht zu lügen, Marc“, klärte ich Herrn Kollberg auf. „Ich habe ihm mit der Nachttischlampe eins übergebraten, weil ich glaubte, es sei Koska gewesen, der mir an die Wäsche ….“
„Das mit dem Kaffee ist eine gute Idee“, brüllte Marc aus seinem Schlafgemach dazwischen. Offenbar verstand man dort jedes Wort, das im Wohnzimmer gesprochen wurde. Demnach hatte er auch mitbekommen, dass Koska mal wieder drauf und dran war, mich zu erwürgen, was möglicherweise zu einem seiner bevorzugten Hobbys avanciert war. Bereits zum dritten Mal war ich diesem Kerl durch sträfliche Leichtsinnigkeit in die Hände gefallen.
Offenbar hatte sich Leander Koska über Marcs plötzlichen Schuss dermaßen erschrocken und um seine Freiheit und sein Leben gefürchtet, dass er das Weite suchen wollte. Das Klingeln an der Wohnungstür hatte er vermutlich überhört. Als er diese dann öffnete um abzuhauen, standen Kollberg und Santo vor ihm, und weil Kollberg nicht rechtzeitig reagierte und Santo offenbar keine Lust verspürte, Koska zu verfolgen, konnte Leander zum x-ten Mal entkommen.
Auch mich hatte der Schuss irritiert, allerdings im positiven Sinne; allerdings wähnte ich Marc, der sich vermutlich nur verstellt hatte, nach wie vor bewusstlos.
Um ihn nicht auch noch in Gefahr zu bringen, hatte ich darauf verzichtet, Koska darauf aufmerksam zu machen, dass ich mich nicht allein in der Wohnung befand.

Ich ging zum Telefon, das auf einem Kratzbaum für Katzen stand, und rief die Wache an.
„Veranlasse bitte, dass sofort alle Ausfahrten von Wasserburg gesperrt werden“, bat ich Knut Hansen, „insbesondere die Bundesstraße 431 und die A 7. Leander Koska hält sich in Weidenbach auf.“
Als ich den Hörer aufgelegt hatte, klingelte es an der Wohnungstür. Ich schaute vorsichtshalber durch den Spion, draußen stand ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Marc hatte keine Kettenvorrichtung an seiner Tür und ich rief: „Wer sind Sie?“
„Dr. Strobel. - Sie haben mich angerufen.“
Ich öffnete die Tür und ließ ihn rein. Dr. Strobel war ungefähr in meinem Alter, aber ich kannte ihn nicht. Vermutlich war er nicht in Weidenbach aufgewachsen, sondern erst viel später zugezogen.
„Nora Merane“, sagte ich. „Wir haben einen Kranken – Marc Keppler. Er liegt im Schlafzimmer. Ich habe ihm …“
„Ich bin von der Leiter gefallen, als ich eine Glühbirne wechseln wollte, dabei habe ich mich am Kopf verletzt“, schrie Marc aus dem Schlafzimmer. „Der Schmerz hat sich bereits etwas gelegt.“
„Er ist von der Leiter gefallen“, sagte ich resigniert. Meine geknickte Miene schien Dr. Strobel zu amüsieren.
„Dann wollen wir uns den Verletzten mal anschauen. Gehen Sie bitte voran, Frau Merane. Ich kenne mich in dieser Wohnung nicht aus“, grinste der Doc.
„Ich habe Kopfschmerztabletten genommen; sie scheinen zu helfen“, sagte Marc und riss sich den Verband ab. Santo kam angesprungen, hopste aufs Bett und ließ sich auf Marcs Knien nieder.
„Ich ging in die Küche. „Dem Himmel sei Dank, dass Sie so aufmerksam waren und Koska beobachtet haben“, sagte ich zu Herrn Kollberg, der Marcs Kühlschrank nach Dosenmilch absuchte. „Das hätte leicht zu einem Blutbad führen können: Marc und Leander – von Angesicht zu Angesicht.“
„Hätte dieser Leander Sie umgebracht, wäre Marc Keppler ausgerastet“, sagte Herr Kollberg. „Er liebt Sie sehr. Ja, merken Sie das denn nicht, Frau Merane?“
„Wenn ich ehrlich sein soll, Herr Kollberg: nicht wirklich. Marc kann manchmal unausstehlich sein.“
„Ihr werdet euch noch zusammenraufen – wie Santo und ich“, sagte Herr Kollberg. „Der war am Anfang, gleich nachdem ich ihn aus dem Tierheim geholt habe, ein widerlicher Köter, aufmüpfig und stur wie eine Kuh. Und jetzt ist er lieb und folgsam.“
„Wie haben Sie das geschafft?“
„Mit viel Liebe und unendlicher Geduld“, sagte Herr Kollberg, stülpte den Deckel auf die volle Kaffeekanne und trug sie ins Wohnzimmer.
Dr. Strobel steckte seinen Kopf durch die Türöffnung, und ich lud ihn ein, eine Tasse Kaffee mit uns zu trinken.
„Ist leider nicht drin“, sagte er. „Ich habe zwei Urlaubsvertretungen übernommen und bin die nächsten dreieinhalb Stunden ausgebucht. Danach werde ich froh sein, wenn ich nach Hause fahren kann. Herr Keppler sollte sich ein, zwei Tage schonen. Ich habe vorsichtshalber noch sein Sprach- und Erinnerungsvermögen getestet. Es ist soweit alles in Ordnung. Sollten sich allerdings Übelkeit und Schwindel einstellen, dann benachrichtigen Sie mich bitte umgehend. Auf Wiedersehen allerseits. Ich finde allein hinaus.“
Sprach 's und fort war er! - Ich stand auf und schloss die Wohnungstür ab. Als ich ins Schlafzimmer blickte, lag Marc mit einem neuen Kopfverband auf dem Rücken und schien zu schlafen. Santo ruhte immer noch auf seinen Knien und schnarchte leise: ein Bild, wie es die Götter lieben.
Ich zog die Tür ein wenig ran, ließ sie einen kleinen Spalt offen, damit ich Marc hören konnte, falls er nach mir rief.
„Was haben Sie früher eigentlich beruflich gemacht?“, fragte ich Herrn Kollberg, während wir uns den Kaffee schmecken ließen.
„Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal, Frau Merane; ich hab' ganz vergessen, dass ich meine Tochter um diese Zeit anrufen wollte. Sie lebt mit ihrer Familie in Sint-Pieters-Leeuw, das ist eine belgische Gemeinde im Pajottenland in der Provinz Flämisch-Brabant. Darf ich Santo noch bei Ihnen lassen? Möglicherweise wacht Herr Keppler auf, wenn ich das Tier vom Bett scheuche.“
„Kein Problem, Herr Kollberg. Ich bringe ihn runter, sobald Marc wieder munter ist.“
Ich warf einen Blick ins Schlafzimmer, nachdem Herr Kollberg die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte.
Marc lag mit geöffneten Augen im Bett und starrte an die Decke.
„Du warst vorhin tatsächlich der Meinung, dass du Leander Koska vor dir gehabt hast und nicht mich?“, fragte er leise.
„Ja“, sagte ich. „Und jetzt lass uns bitte von etwas anderem reden; die Sache war schlimm genug. Ich habe sie noch nicht verkraftet.“
„Dafür hast du dir aber ziemlich viel von ihm gefallen lassen, Nora“, sagte Marc mit vorwurfsvoller Stimme.
„Möglicherweise deshalb, weil er dir so ähnlich ist?“
„Ähnlich s i e h t, wolltest du wohl sagen.“
„Ja, meinetwegen auch das, Marc!“ Ich gab Santo einen leichten Klaps auf den Rücken und tätschelte seinen Kopf.
„Komm, Santo, dein Herrchen wartet.“
Bei 'Herrchen' hob Santo den Kopf und lauschte. Dann sprang er vom Bett und raste zur Tür.
„Was für ein unhöfliches Vieh“, stöhnte Marc. „Erst lastet er mit seinem üppigen Hintern auf meinen Knien, dass ich mich überhaupt nicht mehr rühren kann und dann verabschiedet er sich noch nicht einmal von mir. Meine Beine sind total eingeschlafen.“
„Armer Marc“, sagte ich, trat an sein Bett und streichelte seine Wange. Marc ergriff meinen Arm und wollte mich zu sich runterziehen, aber Santo winselte und jaulte vor der Wohnungstür, dass es nicht zum Aushalten war. Es war mir nie zuvor aufgefallen, dass das Tier dermaßen an seinem Herrchen hing.
„Ich bin gleich zurück, liefere Santo nur schnell bei Herrn Kollberg ab,“, tröstete ich den Kranken. Marc gab mit widerstrebender Miene meinen Arm frei.

Ich hielt Santo am Halsband und drückte auf den Knopf neben der Fahrstuhltür.
Die Tür öffnete sich umgehend und ich taumelte zwei Schritte zurück. Kollberg saß gegenüber der Aufzugstür an der Wand gelehnt, sein Kopf war auf die Brust gesunken, er blutete aus mehreren Wunden. Ich kniete mich neben Santos Herrchen und versuchte, dessen Puls zu ertasten. Santo gab währenddesssen weinerliche Geräusche von sich – wie ein Baby, das Schmerzen leidet.
Entweder hatte Herr Kollberg einen extrem niedrigen Pulsschlag oder gar keinen mehr. Ich befürchtete das Schlimmste. Die Wände des Fahrstuhls waren mit Blutspritzern bedeckt, auf dem marmorierten Boden floss Blut aus einer Fleischwunde am Wadenbein. Der Täter hatte mehrfach zugestochen.
Ich rief Dr. Strobel an, dessen Telefonnummer ich noch im Handy gespeichert hatte und bat ihn, schnellstens in den Finstergang zurückzukehren. Zumindest kannte er bereits den Weg und würde nicht allzu lange brauchen. Gleich darauf forderte ich Verstärkung und die Spurensicherung aus Hellerburg an.
Marc stand mit einem Mal im Flur. „Was ist hier los, Nora. Santo hat meinen Teppich im Wohnzimmer versaut. Er hat Blut unter den Pfoten.“
„Logisch“, sagte ich. „Sein Herrchen ist mit mehreren Messerstichen ermordet worden. Er sitzt im Fahrstuhl. Hast du Trassierband in der Wohnung?“
„Um Gottes Willen“, sagte Marc. „Der arme Herr Kollberg.“ Er raste in die Wohnung und kam mit einem Kissen und einem Handtuch wieder. „Ich versuche ihn zu reanimieren, Nora.“
Er säuberte Kollbergs Gesicht, das über und über mit Blut beschmiert war.
„Trassierband findest du in der Küche, unterste Schublade“, sagte Marc während einer Beatmungspause. „Aber überlass das lieber den Technikern. Wer weiß, wann die mit der Spurensicherung im Fahrstuhl fertig sind.
Könntest du stattdessen bitte Santos Pfoten säubern?“ Marc deutete auf den Lappen, den er auf den Boden des Korridors geworfen hatte. Sein Kopfverband war verrutscht. Er hing wie ein weißer Kragen um seinen Hals.
Santo ließ sich die Behandlung von mir zwar gefallen, winselte und jaulte indes ununterbrochen. Er wollte sich unbedingt neben sein Herrchen legen; aber Marc war der Meinung, dass er in Kollbergs Wohnung vorerst besser aufgehoben sei; die gewohnte Umgebung würde dem Tier helfen, sich zu beruhigen.
Dr. Strobel, der kurz darauf eintraf, konnte nur noch den Tod von Herrn Kollberg feststellen. Zwei gezielte Messerstiche ins Herz hätten ihn herbeiführt.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Weshalb hatte Koska Herrn Kollberg erstochen, obwohl er im Besitz einer Pistole war? - Weshalb hatte Koska Herrn Kollberg überhaupt erstochen? Ich würde Santo, den ich inzwischen in Kollbergs Wohnung gebracht und in sein Körbchen gelegt hatte, „adoptieren“, ihn eventuell zu einem Polizeihund erziehen lassen. Das war eine vernünftige Aufgabe für einen klugen Hund wie ihn. Ferner mussten Marc und ich unbedingt die Wohnung von Kollberg durchsuchen. Die Geheimniskrämerei, die er um seinen Beruf gemacht hatte, beschäftigten meine Gedanken. Möglicherweise hatten sich Leander Koskas und Herrn Kollbergs Wege in der Vergangenheit schon einmal gekreuzt.
Ich war gespannt, was wir in Kollbergs Wohnung finden würden. Seine Tochter in Belgien musste angerufen werden, auch das. - Aber da war n o c h etwas, irgendein Detail, das ich übersehen hatte. Ich grübelte mir fast die Gehirnzellen wund, aber die Erleuchtung folgte auf dem Fuß.

Fortsetzung am Freitag, den 13. Januar 2017

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