Der Dreck von der Straße

Bild von Mark Read
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Als er erwachte, war die Sonne schon wieder da. Die Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen, sie halfen aber nur wenig. Es war zu hell in dem verdammten Schlafzimmer. Er stand auf, torkelte ins Bad, wusch sich das Gesicht. In den Spiegel blickte er dabei nicht. Er tat es nie, weil er sich ohnehin nicht im Spiegel sehen konnte. Auf dem Tisch in der winzigen Küche stapelte sich schmutziges Geschirr. Im Kühlschrank lagen Schokoriegel und einige Flaschen Bier herum, und ein ranzig gewordenes Stück Butter. Er aß einen Schokoriegel und trank eine Tasse dünnen, schwarzen Kaffee. Eine Zeitlang blickte er aus dem schmutzigen Fenster auf die Straße. Dann nahm er seine Jacke und ging zur Arbeit.
Es war ein angenehmer Frühsommertag, doch er nahm ihn nicht wahr. Starr folgte sein Blick dem Muster der Pflastersteine auf dem Boden. Als er das Tor der Werkshalle passiert und sich seinen Arbeitsoverall übergestreift hatte, wurde sein Kopf allmählich wieder klar. Die Aussicht auf einige Stunden geregelter Tätigkeit im Reinigungsfahrzeug entspannte ihn. Er musste er sich nicht auf den Verkehr konzentrieren, sein Aufgabengebiet waren die Gehwege, wo er Kiesel und Müll zu Haufen zusammenzuschieben hatte. Die Stunden vergingen immer irgendwie, so war es nun mal, und auch an diesem unerträglich schönen Tag wurde es allmählich Abend. Er tauschte den Arbeitsoverall gegen seinen abgewetzten Pullover und trat durch das Tor der Werkshalle ins Freie. Die Beklommenheit kehrte zurück. Er nahm die Straßenbahn, dann die U-Bahn, und als er in Giesing wieder an die Oberfläche kam, war es bereits dunkel.

In der Kneipe saßen Gestalten, denen es ging wie ihm. Niemand fragte hier nach Gründen, niemand sprach über Vergangenes, jeder beschäftigte sich nur mit Dingen, die fassbar und real waren. Das tat ihm gut. Er bestellte ein Bier und redete mit irgendwem, der ihn nicht kannte, dann kam ein weiteres Bier und er redete immer noch. Als das dritte Bier vor ihm stand, war er bereits still geworden und starrte vor sich hin. Das Glas mit dem vierten Bier hielten seine Hände krampfhaft umklammert. Irgendwann brachte ihn jemand nach draußen, vielleicht der Wirt oder ein anderer Stammgast, er konnte es nicht erkennen.
Wie er vor die Tür seiner Wohnung gelangt war, wusste er am nächsten Tag nicht mehr. Es war aber auch nicht von Belang. Denn er war ja nach Hause gekommen, so wie jeden Abend.

Wieder erwachte er, als die Sonne bereits auf ihn wartete. Hätte er sein Spiegelbild sehen können, wären ihm seine geröteten Augen womöglich aufgefallen. Doch er konnte es schon lange nicht mehr sehen. An diesem Tag bestand sein Frühstück aus einem Stück trockenen Brot, das er im Schrank gefunden hatte, dazu trank er dünnen, schwarzen Kaffee. Auf dem Weg zur Arbeit folgte sein Blick wieder dem Muster, das die Pflastersteine auf dem Gehweg bildeten. Irgendwann erreichte er das Werksgelände. Mit noch zittriger Hand öffnete er seinen Spind, streifte den Overall über, setzte sich ins Reinigungsfahrzeug. Sein Kopf schmerzte mehr als an den anderen Tagen.

Heute waren die Gehwege in Schwabing dran. Er wollte nicht in dieses Viertel fahren, wollte die Häuser nicht ansehen und die Menschen nicht erkennen. Die Zeit schien langsamer zu vergehen als sonst.
Jemand klopfte von links an die Scheibe seines Fahrzeugs. Langsam hob er die Augen und sah einer mittelalten Frau ins Gesicht, mit geschminkten Lippen und Wimperntusche.
"Entschuldigen Sie", sagte die Frau, "sind Sie nicht Pascal Holzner? Der Sänger?"
Langsam schüttelte er den Kopf. Setzte sein Fahrzeug in Bewegung. Doch die Frau klopfte erneut.
"Doch! Natürlich sind Sie es. Pascal! Erkennst du mich? Sophie, Jessicas Schwester. Weißt du noch, von früher?"
Er schluckte und schüttelte seinen Kopf.
"Tu doch nicht so, Pascal! Ich wäre um ein Haar deine Schwägerin geworden, natürlich erkennst du mich noch. Das waren noch Zeiten, oder? Du in den Charts, du und Jessica in der Zeitung …'Forever and a day' hieß dein Hit, oder? Den habe ich damals rauf und runter gehört! Machst du noch Musik?" Sie lächelte ihn verbindlich an. Er wollte etwas sagen, doch dann wollte er es eigentlich auch nicht.
"Ich bin jemand anderes", murmelte er. "Lassen Sie mich in Ruhe."
"Wie bitte?", sagte das geschminkte Gesicht und beugte sich ganz nah an die Scheibe heran.
Mit einem einzigen, kräftigen Stoß öffnete er die Tür seines Fahrzeugs. Der Schwung warf die Frau um. Sie fiel auf den Asphalt.
Er setzte das Fahrzeug in Bewegung, ohne zu wissen wohin er fahren wollte. Er kam aber ohnehin nicht weit. Passanten, die die Szene beobachtet hatten, stellten sich ihm in den Weg. Man zwang ihn, auszusteigen, man umringte ihn, redete auf ihn ein. Auch die Frau war wieder aufgestanden, unverletzt, aber aufgebracht.
"Ich habe ihn nur gefragt, ob er Pascal Holzner ist. Sie wissen schon, der Sänger, der vor vielen Jahren mal erfolgreich war."
Andere Stimmen pflichteten ihr bei, dass er tatsächlich große Ähnlichkeiten mit dem Sänger aufweise, jedoch viel ungesünder und heruntergekommener aussehe.
"Ich bin jemand anderes", murmelte er mit schwacher Stimme. "Lassen Sie mich in Ruhe."
"Was ist passiert?", fragte irgendjemand. "Warum singen Sie nicht mehr? Warum kehren Sie den Dreck von der Straße, anstatt Musik zu machen?"
"Haben Sie nicht mal hier in dieser Straße gewohnt?", fragte eine Stimme.
"Sind Sie noch mit der hübschen Moderatorin zusammen, wie hieß sie noch…", wollte irgendjemand wissen.
"Nein, ist er nicht mehr. Glauben Sie mir, sie ist meine Schwester…"
"Pascal! Sie waren ein Held meiner Kindheit, ich wusste ja nicht, dass sie noch in der Stadt leben…"

Als er später in seine Wohnung zurückkam, überlegte er kurz, in die Kneipe nach Giesing zu fahren. Unschlüssig stand er in seinem Wohnzimmer, zwischen leeren Pizzaschachteln und zerknüllten Zeitschriften. Dann ging er zum Regal, kramte eine CD hervor und legte sie in die Stereoanlage. Als er sich im Bad das Gesicht wusch, fiel ihm auf, wie dreckig der Spiegel war. So dreckig, dass er sein Spiegelbild nur mit Mühe erkennen konnte. Er nahm sich vor, gleich am nächsten Tag einen Lappen zu kaufen.

Geschrieben für den Kurzgeschichtenwettbewerb des Literareon Verlags zum Thema "Spiegel".