Da lag er auf der Brüstung im Licht der Strahler: ein einzelner flacher Gästepantoffel aus schwarzem Filz, das leicht gewölbte Oberteil mit einem goldbortenartigen Überwendlichstich maschinell an die längere verstärkte Sohle geheftet, billig, weich, verlockend und völlig unspektakulär.
Ich wunderte mich zwar über ihn an diesem Ort, aber ich fand ihn schön, irgendwie. Und schließlich hatte er niemanden mehr, wie es schien, also nahm ich ihn mit mir.
Ja, und dann hatte ich ihn verloren in dem ganzen Gewühl um mich herum. Bei all dem Stoßen und Drängen in dem Einkaufszentrum war da nichts mehr zu machen. Ich versuchte, mich nach ihm zu bücken – aussichtslos, von überall her wurde ich angebumpt, Po, Kopf, Rücken, „Pass doch auf, Mensch!“ und missbilligendes Kopfschütteln.
Fast wäre ich gestürzt, als mich ein gewichtiger Mann anschubste; er hatte mich unter seinem Bauch sicher nicht gesehen. Um einen Sturz möglichst zu verhindern, klammerte ich mich instinktiv an ein paar weiblichen Beinen fest, was uns allerdings sehr viel näher brachte als beabsichtigt: Wir gingen beide zu Boden, durch die umgebende Menge jedoch in Zeitlupe.
Nach erstem unwilligen Stocken des Fußgängerflusses („Was soll das denn!“ „Können Sie denn nicht aufpassen!“), bildete sich eine Arena um uns, ohne dass eine helfende Hand ein- oder zugegriffen hätte.
Das Volkstribunal bekam eine Stimme, die inquisitorisch-fordernd fragte: „Und? Wollen Sie nicht langsam mal aufstehen? Was halten Sie uns denn hier alle auf?“
Zustimmendes Murmeln erhob sich, garniert mit einzelnen „Genau!“-Rufen und „Ist ja nicht zu fassen!“
Ich sah, dass ich eine kleine ältere Dame gefällt hatte, die bis jetzt noch stumm geblieben war, mich aber voll entrüsteter Abscheu von unten her anblickte. Nachdem ich mich mühsam hochstemmen und feststellen konnte, dass alle Knochen noch da waren, wo sie hingehörten, half ich in einem zweiten Schritt auch der älteren Lady auf die Beine. Jetzt endlich kamen einige weibliche Hände aus der Menge und putzten gleich mir ihren hellen Trenchcoat ab.
„Alles in Ordnung? Tut mir leid. Haben Sie sich etwas getan?“, fragte ich die Dame, die bis jetzt immer noch zu überlegen schien, was sie wohl von dem Ganzen halten solle. Sie sah mich vorwurfsvoll mit brennendem Blick an.
„Ich bin geschubst worden und konnte mich nicht mehr halten. Tut mir wirklich leid, es war ein Reflex“, ergänzte ich hilflos.
„Und was haben Sie da unten gemacht? Den gestrigen Tag gesucht?!“, kam es bittersüß aus ihrem Mund, während nun auch sie sich an der Abklopfaktion der Umstehenden beteiligte und dabei an ihrem Mantel hinuntersah.
„Tatsächlich hab ich was verloren“, antwortete ich ihr und fragte im selben Atemzug noch einmal besorgt: „Haben Sie sich auch wirklich nichts getan?“
„Wenn, dann hätten Sie mir was getan. Nein, danke, alles in Ordnung.“
Die Dame war taff! Während sie nun auch ihre schwarze Umhängetasche kontrollierte und die wohl ebenso für in Ordnung befand, kam ziemlich pragmatisch und staubtrocken aus ihrem Mund: „Kann ich jetzt endlich weitergehen? Ich will nach Hause.“
Die Umstehenden fragten kanonartig: „Wo wohnen Sie denn?“ „Ist das weit? „Wohnen Sie weit weg?“ „Wie heißt denn die Straße?“
Ihr kleines Gesicht mit der Bittermiene verzog sich sehr missbilligend unter der weiß-strahlenden Kurzhaarfrisur. Sie strafte alle Gaffer mit Nichtachtung, während ihre funkelnden Augen sich in meine brannten.
Die Menge begriff, dass sich nichts Spektakuläres mehr ereignen würde und kam langsam wieder in Bewegung, wenn auch nur sehr widerwillig.
Ich geleitete die Lady zu einer Bank, die gleich nebenan vor einem Schuhgeschäft stand. Neben der Bank ordnete eine Verkäuferin angelegentlich die linken Schuhe, die ihr in einem Drehgestell den Grund geliefert hatten, mit langem Hals über die Menge hinweg nach der Ursache zu forschen, warum der Menschenfluss ins Stocken geraten war. Sie ordnete weiter, betont uninteressiert, drehte aber ihre Ohren sichtbar in unsere Richtung.
Die Lady und ich stellten fest, dass wir in derselben Straße wohnten, uns aber offensichtlich noch nie begegnet waren!
Und wir stellten ebenso fest, dass wir denselben unangenehmen Nachbarn hatten, gegen den sich zu verbünden gewiss eine lohnende Sache darstellte.
Ein paar Bekannte von ihr fühlten sich ebenfalls von ihm drangsaliert, bzw. hatten sein blockwartiges Handeln mitbekommen, und mir würde es sicher gelingen, die eine oder andere Nachbarin mit ihren jeweiligen Einzelerlebnissen noch aus der Reserve zu locken, damit wir gemeinsam eine Art Petition an die Wohnungsgenossenschaft verfassen könnten.
Jetzt schien die Lady regelrecht erleichtert: „Deshalb musste das Ganze sein. Damit sowas möglich wird!“, versuchte sie unserem Unfall einen Sinn zu geben.
Die Verkäuferin nickte ehrfürchtig in meine Richtung, sie sah das wohl genauso.
Beim Verlassen des Einkaufszentrums wurden die ältere Dame und ich getrennt, sie nahm den Aufzug, während mich der Fußgängerstrom zur Treppe hin mit sich riss und auf die Straße spülte. Draußen sah ich die kleine weißhaarige Gestalt noch einmal kurz, aber sie schien im Moment kein gesteigertes Interesse daran zu haben, mir am selben Tag ein weiteres Mal zu begegnen.
Schade eigentlich, denn ich fand sie nett. Naja, nett … wohl auch ein bisschen spröde. Aber wir wussten ja jetzt, wie wir unfallfrei wieder zusammenkommen könnten.
Ich ließ mich treiben, als ich weiter vorne bekannte Gesichter sah: drei ehemalige Kolleginnen auf ihrem Weg in den Feierabend. Es gab ein ziemlich gackerndes Hallo, denn sie hatten mich ebenso wenig zu treffen erwartet wie ich sie. Das musste gefeiert werden! Uns fiel gleichzeitig die gemütliche Altstadtkneipe ein, die wir auch sofort gemeinsam ansteuerten.
Anscheinend hatten andere dieselbe Idee gehabt oder es waren ein paar Touristenbusse ausgeschüttet worden, jedenfalls herrschte ein furchtbares Chaos. Dennoch war es unserem Grüppchen gelungen, uns bis zur gegenüberliegenden Seite durchzukämpfen, wo im tiefer gelegenen Teil des Gastraumes auf einer Eckbank, direkt neben den Stufen zum zweiten Eingang, tatsächlich noch vereinzelte Plätze frei schienen.
Vom Straßenniveau her boten zwei verschwörerisch sich anbiedernde Damen über die kleine Brüstung hinweg durchs offene Fenster ins Innere der Altstadtkneipe hinein garantiert echten Schmuck zu Schnäppchenpreisen an.
In dem lautstarken Gedränge um uns herum verstand man seine eigenen Gedanken nicht mehr. Keine Ahnung, wie das geschehen konnte, was da geschah, aber jedenfalls waren meine drei Ex-Kolleginnen ihren gesamten Schmuck einschließlich der Uhren losgeworden, wie sie entsetzt feststellten. Auch ihre Handtaschen waren in ihren Händen professionell entleert worden: Nur das Wichtigste fehlte, Geld und Handy. Dafür hatten sie jede einen Plastikbeutel mit Talmi in der Hand.
Schnell kontrollierte ich meinen Rucksack, den ich bei Gedränge stets vor dem Bauch festhielt. Tatsächlich war auch bei ihm die vordere Tasche ansatzweise geöffnet, aber in dem Wust der dort verkramten Dinge war die schmale Hand wohl nicht bis in die Tiefen zu der Pocketkamera und meinem Uralt-Dampfhandy vorgestoßen – oder beides war zu uninteressant für Kennerhände. Die beiden Rucksack-Hauptabteile fand ich noch originalverschlossen vor und auch mein Geldbeutel lag unversehrt und gefüllt an seinem Platz. Die Rechnung übernahm natürlich ich in diesem Fall.
Erleichtert schloss ich alle Reißverschlüsse wieder, im selben Moment schoss mir durch den Kopf: „So. Und jetzt weiß jeder, der das beobachtet hat, wo genau sich meine Wertsachen befinden.“
Oft genug hatte ich diesen Alptraum gehabt, in immer wieder neuen Varianten …
Nein, diese Erfahrung jetzt ließ mich den dringenden Wunsch verspüren, wie meine Ex-Kolleginnen am besten sofort den Heimweg anzutreten. Ich kämpfte mich aus der Sitzecke hervor und stieß hinterrücks mit einer Dame zusammen, die in dem Moment wohl gleich mir dem Ausgang zustrebte.
Das führte erneut zu einem ungewollten Körperkontakt und ich verhedderte mich in den langen Schlaufen ihrer Schultertasche. Sie riss die Tasche zwischen uns hervor und kontrollierte sie empört, während ich mich ein ums andere Mal bei ihr entschuldigte, schließlich hatte ich ja keine bösen Absichten gehabt.
So lief ich erklärend hinter der Dame her, die das wohl lästig fand. Aber es musste sein, nach dem, was meinen Ex-Kolleginnen gerade eben geschehen war. Ich wollte nicht in einem ähnlich falschen Licht dastehen.
Bis mir auffiel, dass mir etwas fehlte …
Mein Rucksack! Panikvoll strebte ich gegen den Strom zu der Altstadtkneipe zurück.
Das Erste, was ich beim Betreten des inzwischen geleerten Saales sah, war ein schwarzer Filzpantoffel. Er lag neben dem üppigen Hintern, der sich mir entgegenstreckte. Der Besitzer sowohl der Kneipe wie des Hinterns als auch des Pantoffels kniete vor mir am Boden und versuchte höchstpersönlich, einen rätselhaften Fleck von den Dielenbrettern zu entfernen, der zweite Filzpantoffel zierte noch seinen linken Fuß. Hinter der Theke lehnte ein übermüdeter Allroundkellner, eine gläsertrocknende Servicekraft schaute uninteressiert hoch.
Meine hektische Frage ergab: Der Kneipenbesitzer hatte meinen Rucksack sichergestellt! Eine sofortige Kontrolle des Inhaltes lieferte das Ergebnis, dass alles unversehrt an seinem Platz lag!
Ich fiel dem guten Mann erleichtert um den Hals und stellte plötzlich fest, dass er klammerte.
Irritiert verhielt ich einen Moment, doch dann spürte ich ihn schluchzen, also wartete ich noch ein bisschen ab. Nach einer Weile wurde er etwas ruhiger und wir setzten uns auf die Eckbank.
In meine stille Anwesenheit hinein erklärte er mir verschämt, dass sein langjähriger Lebensgefährte ihn verlassen hätte und dass er fertig mit den Nerven sei.
Wieder musste er weinen und wandte sich von mir ab. Ich setzte mich hinter ihn und hielt den bebenden Körper vor mir im Arm.
„Dann fühlt man sich sehr allein“, sagte ich leise.
„Danke …“, flüsterte er, weil er ja nicht wissen konnte, dass ich wegen seines Verlustes an meinen Mann zurückdachte und wie erbarmungslos er über Monate hinweg an seinem Bronchialkarzinom verstorben war.
Ich spürte, wie sich der Krampf langsam aus dem Körper vor mir löste und das stumme Schluchzen eine therapeutische Wirkung bekam.
Die kleine, alte Lady aus meiner Straße fiel mir wieder ein und ich dachte so bei mir: „Deshalb musste das Ganze sein. Damit sowas möglich wird!“
© noé/2017