Zeit für sich

Bild von Magnus Gosdek
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Zu Weihnachten schenkte Ellen ihm einen Bonsaibaum und Carl wusste nicht, wie er das nun wieder deuten sollte. Zwar hatte Ellen ihn bereits des Öfteren darauf hingewiesen, er solle sich doch endlich eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung suchen, doch Carl beteuerte stets, sie sei sein einziges Hobby.
Vielleicht fasste Ellen dies als Drohung auf und hatte sich in ihrer Panik in die abstruse Idee verstrickt, Rettung könne sie nur erfahren, wenn ihr Mann sich eine Miniaturschere schnappen und stundenlang auf der Suche nach keimenden Asttrieben begeben würde, die er mit verbissener Entschlossenheit abschneiden konnte.
„Du wirst sehen, wie viel Spaß es dir macht“, hatte Ellen ihm erklärt.
Doch Carl bezweifelte das. Seit dreißig Jahren hatte er seine ganze Kraft darauf verwendet, Dinge zu erschaffen. Bei den Maschinen, die er konstruierte, fügte er auf den Plänen ständig Teile hinzu, damit sie besser funktionierten. Worin also sollte der Sinn liegen, einen Baum zu beschneiden, der ohnehin so winzig wie ein Spielzeug war, um zu verhindern, dass er wuchs? Beschnitt er nicht den Sinn des Lebens, wenn er sich mit seiner Zerstörungswut über das winzige Blattwerk hermachte und somit letztendlich sich selber?
„Mir ist egal, was du machst. Steh´ mir nur nicht im Weg herum“, erklärte ihm Ellen.
Aha! Carls Beteuerung, Ellen sei sein einziges Hobby, wurde von seiner Frau wohl nicht als eine glorreiche Idee aufgenommen. Er war also nicht der Einzige, der dem Umstand, dass er nun in den Ruhestand gesetzt worden war, mit gemischten Gefühlen entgegenblickte. Doch gab es zwischen den beiden einen entscheidenden Unterschied. Ellen ließ sich in ihrem gewohnten Tagesablauf nicht stören, während Carl bislang nicht wusste, was er überhaupt anfangen sollte.
„Jetzt hast du Zeit für dich“, sagte Ellen und Carl überlegte, woher seine Frau nur all diese klugen Sprüche nahm.
„Zeit für sich“ war ein unkontrollierbares Monster. Es fraß höhere Gedanken und produzierte nebensächliche Albernheiten, deren Existenz nur mit ignoranter Entschlossenheit zu verteidigen war. Das sah Carl an seinem Nachbarn. Seitdem Oskar in Vorruhestand gegangen war, sammelte er Baseballkappen. Er machte keinen Unterschied, welcher Sportart sie ihre Farben und Embleme verdankten. Es waren Kappen der europäischen Fußballligen, von Basketballmannschafen, dem American Football und des klassischen Baseballs, die sich Oskar sogar über das Internet bestellte. Selbst eine Kappe des Neuruppiner Rudervereins hatte den Weg in Oskars Keller gefunden, in dem sie wie Skalp-Locken einträchtig nebeneinander hingen.
Besonderes Vergnügen schien Oskar darin zu finden, sich auf den Hocker der kleinen Bar zu setzen, die er selbst gebaut hatte, und ein Bier aus dem Zehn-Liter-Fass zu zapfen, das ständig angeschlossen war. Auch einen Flachbildschirm hatte er an die Wand gehängt, wofür einige Baseballkappen hatten zusammenrücken müssen.
„Meine private Sportsbar“, sagte Oskar voller Stolz, als er dem Nachbarn seinen Keller das erste Mal zeigte und er brachte Carl damit zu der Überzeugung, dass Oskars Ideentriebe, die seinem Gehirn entsprangen, die einzigen waren, die zu stutzen es sich lohnte.
In Carls Leben jedenfalls sollten Baseballkappen keine Rolle spielen. Dann wollte er Ellen doch lieber im Wege herumstehen. Das war einfacher und effektiver. Es brachte Bewegung ins Haus und nicht die Todesstarre von Sportartikeln oder dem bemitleidenswerten Dahinsiechen von Mini-Bäumen. Tatsächlich zeigte Ellen unmittelbare Wirkung.
„Jetzt mach doch einfach irgendetwas Sinnvolles“, forderte sie und bescherte Carl ein neues Wort, über das es sich nachzudenken lohnte: „sinnvoll“.
Wer entschied darüber? Früher hatte es seine Firma entschieden, oder er, oder seine Firma und er. Manchmal war es nicht richtig auseinanderzuhalten. Jedenfalls gab es einen Plan, oder jemand gab vor, einen zu haben, was auch genügte. Sinnvoll hatte immer etwas mit Erfolg zu tun, in Carls Fall mit dem Abschluss eines Projektes. Wenn es nach Ellen ging, hatte er nun wieder eine neue Aufgabe, die jedoch nicht abgeschlossen werden konnte. Dies verwirrte Carl. Ellen meinte, die Beschneidung des Bonsais würde beruhigend wirken und die Seele zentrieren.
Mmhmm! Carl stellte sich vor, wie diese Aussage ihn seinen Freunden gegenüber esoterisch verdächtig machen würde. Kümmerte er sich in letzter Zeit um den Gleichklang der Seele? War das womöglich die Vorstufe zu Yoga? Niemand von ihnen würde ihn verstehen, selbst Carl nicht.
Mit seinen Freunden redete er über die Arbeit, Sport und Autos. Eigentlich sprachen die anderen über Autos; Carl hatte sich nie wirklich dafür interessiert. Sein Thema war Arbeit, die Projekte, mit denen er sich gerade beschäftigte, oder die geplant wurden. Aber das war nun vorbei. Darüber gab es nichts mehr zu berichten. Die Vorstellung, seine Sätze mit „Wir früher…“ zu beginnen, ließ Carl erschaudern.
Es musste doch noch ein Thema geben, über das man sich unterhalten konnte. Wie machte Ellen das bloß? Sie traf sich ständig mit Freundinnen, ohne dass ihnen das Gesprächsthema auszugehen schien. Überhaupt war seine Frau immer irgendwie beschäftigt. Waren es nicht die Freundinnen, so kümmerte sie sich um den Haushalt oder malte ein wenig in dem kleinen Atelier, das sie sich auf der Ostseite des Hauses eingerichtet hatte, um die Abendsonne mitzubekommen.
Ellen war ständig voller Pläne, aber sie schien keinen Plan dabei zu haben. Bei ihr wirkte alles ungezwungen. Irgendeine unsichtbare Macht gab ihr die Zuversicht, dass sich alles nach ihrem Wunsch fügen würde. Carl bewunderte seine Frau für diese ungebrochene Entschlossenheit, sich ihr Leben einzurichten.
Für ihn war es nicht so einfach. Nachdem Arbeit und Autos als Gesprächsstoff ausfielen, blieb ihm nur der Sport. Zumindest für dieses Thema besaß er nun genügend Zeit, um sich auf dem Laufenden zu halten. Im Fernsehen liefen den ganzen Tag Berichte sämtlicher wichtiger Entscheidungen, die es rund um die Welt auszustrahlen gab. Die Sender zeigten auch Übertragungen der Wettbewerbe. Davon gab es jedoch wesentlich weniger als Carl vertragen konnte und so sah er sich häufiger Wiederholungen alter Wettkämpfe an.
„Es gibt auch andere Programme“, sagte Ellen. „Dokumentationen und gute Filme. Es muss ja nicht immer Sport sein.“
So begann Carl eine Zeit lang, sich das tägliche Nachmittagsprogramm im Fernsehen anzusehen. Streitigkeiten in der Familie, Betrugsfälle und – in geringem Maße – Kochshows. Bis auf die kulinarischen Gefechte sah er ausschließlich Geschichten, die das Leben schrieb und von denen er bislang keine Ahnung gehabt hatte. Es schien, als würde die Welt um ihn herum untergehen, während er sich als regloser Beobachter in seinen Sessel krallte.
Für Ellen wurde sein täglicher Fernsehkonsum auf Dauer zu viel.
„Wenn du nicht weißt, was du machen sollst, dann such dir doch eine Arbeit“, sagte sie, während sie die Triebe des Bonsais beschnitt.
„Du willst mich wohl aus dem Haus haben“, stellte Carl aus seinem Sessel heraus fest.
„Oh Mann!“ sagte Ellen, aber damit war das Thema für sie erledigt. Während seiner Betroffenheitsphase – wie Carl seine Zeit am Fernseher später nennen würde – fühlte er sich bereits nach dem Aufstehen benommen. Früher hatte er diesen Zustand immer mit vorabendlichen Alkoholkonsum in Verbindung gebracht, der gelegentlich an Missbrauch grenzte.
Und zack! Das war es! Dieses „früher“, das ihn in eine Erinnerungsstarre versetzte, die ihm jegliche Kraft raubte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich das unscheinbare „wir“ dazugesellte und er sich durch die legendengeschwängerten Dekaden der Vergangenheit treiben ließ.
Immerhin bemerkte Carl, dass dies kein gesunder Zustand war und auch Ellen sich mit dieser Art der Lebensbewältigung nicht zufriedengeben würde. Er wusste, dass Stillstand nicht das angemessene Mittel zur Gestaltung der Zukunft war. Carl brauchte Bewegung.
Sie würde ihm guttun, hielte ihn körperlich und geistig fit, wie man so sagte. Ellen fand Carls Idee, Sport zu treiben, hervorragend und Carl befand, dass auch der Zusatznutzen beruhigend auf seinen Geist einwirken würde. Man konnte gewinnen, vorausgesetzt, man wählte die richtige Sportart.
Als junger Mann hatte er mit Begeisterung Badminton gespielt, bis er es irgendwann einfach seingelassen hatte. Nun war die Zeit gekommen, seine Fertigkeiten wieder zu verbessern und so tauschte Carl die Fernbedienung gegen den Schläger.
„Pass auf, du bist nicht mehr der Jüngste“, mahnte Ellen ihn.
„Du wirst sehen, wie schnell die Form wiederkommt“, erklärte Carl voller Selbstbewusstsein.
Als er von seinem ersten Spiel tatsächlich wiederkam, hatte er sich einen Sehnenriss in der linken Achillesferse zugezogen. Eine der schnellen Drehbewegungen war zu viel für ihn gewesen.
„Nun hast du Zeit, den Riss in Ruhe auszuheilen“, bemerkte Ellen.
Die Krücken waren lästig und hinderten Carl zu tun, was er wollte. Er konnte Oskar nicht besuchen und überprüfen, ob eine neue Baseballkappe den Weg in die intime Sportsbar gefunden hatte. Auch Ellen hielt ihm nicht die Hand. Sie traf sich weiterhin mit ihren Freundinnen und beschäftigte sich mit dem Haus oder der Malerei.
Nun gut, dachte Carl, dann ist es umso wichtiger, geistig rege zu sein. Aus seiner Sicht schloss dies das Fernsehen und den Bonsai aus. Aber er konnte lesen. Nicht Bücher, an ihnen hatte er niemals Vergnügen gefunden. Sie waren ihm schlichtweg zu dick. Außer Bedienungsanleitungen gab es nichts über dreißig Seiten, was in seinen Augen ungekürzt herausgegeben werden durfte, damit er den Sinn wenigstens einigermaßen verstand. Doch glücklicherweise war er darauf nicht angewiesen. Es gab ja Tageszeitungen. Wenn Ellen von ihren Einkäufen zurückkehrte, brachte sie fünf von ihnen mit und Carl war den gesamten Nachmittag beschäftigt, sie durchzulesen.
Es dauerte einen Monat, bis er bemerkte, dass sie alle letztendlich über dasselbe berichteten. Das war nicht verwunderlich. Abgesehen von einigen regionalen Ereignissen, die den Unterschied ausmachten, waren es politische oder wirtschaftliche Nachrichten, die das Tagesgeschehen widerspiegelten.
Carl las sie alle und begann, die Berichte der einzelnen Zeitungen miteinander zu vergleichen. Er entdeckte, dass sie aus wenigen Fakten und vielen Mutmaßungen bestanden. In dieser Beziehung waren sie seinem jetzigen Leben nicht unähnlich. Sie kreisten um ein Thema, ohne dass sie es tatsächlich greifen konnten, geschweige denn einen Plan aufwiesen. Den Kern bildeten zumeist Zitate und das erinnerte Carl wiederum an Ellen. Diese Ein-Satz-Aussagen schienen der einzige Fixpunkt in all den Geschichten zu sein, welche die Tagespresse produzierte und ähnlich wie die Verleger, gab Ellen mit ihren Kommentaren die Richtung vor, in die sich die Handlung bewegen sollte. Alles andere war Sache der Reporter, oder – in Ellens Fall – von Carl.
Diese Herausforderung benötigte einen ungezügelten Geist und brachte Carl zu der Überzeugung, dass er als Bonsai äußerst ungeeignet wäre. Die permanente Beschneidung verhinderte das freie Wachstum, welches unbedingt notwendig war, ein erfülltes Leben zu führen. Vielleicht erging es Bäumen ebenso. Vielleicht waren sie es, die Zeit für sich brauchten und wenn dies der Fall sein sollte, so war dafür jedenfalls mehr nötig, als einen Tag glücklich zu überstehen. Carl wusste über Bonsais nicht genug, um sich eine abschließende Meinung zu bilden. Das wenige aber, was ihm bekannt war, genügte, um eine Entscheidung zu treffen.
Im Frühling konnte Carl die Krücken beiseitelegen. Noch am selben Nachmittag nahm er die Schale des Bonsais vom Fenstersims herunter und trug sie in den Garten. Nahe der Hecke, die Oskars Grundstück abgrenzte, stellte er sie ab und grub ein Loch in den feuchten Wiesenboden. Es war gerade so groß, dass er den Bonsai dort hineinsetzen und die Wurzeln mit Erde bedecken konnte.
Inmitten der Obstbäume sah der Bonsai so mickrig aus wie die Plastiknachbildung eines Spielzeugbaumes. Carl störte das nicht und ganz bestimmt auch nicht den Bonsai. Carl würde sich um ihn kümmern. Er würde ihn wässern und ansonsten dem Lauf der Zeit überlassen. Vielleicht schaffte der kleine Baum, der sich erstmals in freier Natur versorgen musste, es nicht. Immerhin aber gab es Hoffnung, und das war das Einzige, was Carl für sich und den Bonsai tun konnte.

Interne Verweise

Kommentare

09. Jan 2016

Das ist mal wieder ein echter Gosdek!
Und ernsthaft:
Aus den erwähnten "Beschneidungsgründen" (was auch die Wachstumsbedingungen auf so eng begrenztem Raum einschließt) habe ich mich nie entschließen können, mir einen Bonsai anzuschaffen, so "niedlich" sie auch aussehen. Einem Wesen den Lebensraum und die Entwicklungsmöglichkeiten bewusst vorzuenthalten, die ihm zustehen, das konnte ich nie nachvollziehen.

09. Jan 2016

Kein Bonsai - Zwerg:
(F)Ein gutes Werk!

LG Axel

10. Jan 2016

Danke schön, Euch beiden. Ja, Noé, ich habe den Sinn auch nie verstanden. Wir hatten vor Jahren einmal einen Bonsai und haben ihn dann im Garten eines Freundes eingepflanzt. LG Magnus