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Overalls entsprechend des Körperumfangs aus. Der beleibte Herr war zu dick, für ihn gab es keinen passenden Overall. Er konnte Ausatmen und bekam sein Geld zurück. Den Overall zog man mühsam über die Kleidung, die man anhatte. Ich bereute, dass ich einen seriösen Eindruck machen wollte und Jeans anstelle der üblichen kurzen Hosen angezogen hatte. Es war eng, warm und unbequem. Danach wurde dann noch die kräftige Gurtkombination mit der Seilbefestigungsanordnung am Rücken so fest angeschnallt, dass ich Angst um das Wohlbefinden meiner Prostata u.a. hatte.
Danach ging Antony mit seiner bunten, stolzen Truppe durch die anwesenden Zuschauer, die uns bewundernd anschauten (bildete ich mir ein), durch eine Sperre und in einen Aufzug. Auf dem Weg nach oben erzählte uns Antony: „Der Rundgang oben um den Turm ist seit zwei Jahren möglich. In dieser Zeit ist noch kein einziger heruntergefallen. Ich hoffe nicht, dass einer von Euch der Erste sein wird.“ Der eingeübte Spruch erzeugte gedämpftes Gelächter im Fahrstuhl, dessen Boden aus Glas war, dass man sah, wie schnell wir uns nach oben bewegten.
Oben angekommen, wurden wir von Antony sorgfältig mit einem Drahtseil gesichert, das über uns in einer Schiene mitlief. Danach gingen wir auf den schmalen Grad, der auf 192 m Höhe um den Turm führt. Ich spürte die Luft, die etwas kühler war als unten auf dem aufgewärmten Pflaster.
Hinter uns, an der Absprungrampe, war ein junger Mann gerade bereit zum Sprung. Ich verfolgte diesen interessiert, bald werde ich dort stehen, konzentrierte mich dann aber auf das Walk-Abenteuer.
Die beiden Frauen und der junge Mann fühlten sich ziemlich unsicher so direkt am Abgrund zu stehen. Ich hatte, wie ich erwartete, damit überhaupt keine Probleme. Ich hatte beim Segelfliegen gelernt, auf Material und Ausrüstung zu vertrauen. Nur dann kann man in ungewohnten Situationen relativ entspannt sein. Ich hatte eher ein angenehmes als unangenehmes Gefühl, als ich an der Kante stand und vorwärts oder rückwarts über dem Abgrund hing. Ich war der Meinung, dass das Seil zu straff gespannt war und zu wenig Überhang zuließ. Unser Führer Antony hatte da bedeutend mehr Spielraum, was er uns genüsslich demonstrierte.
Was mich am meisten interessierte und packte war die tolle Aussicht von dieser ungewöhnlichen Position. Auckland liegt ja an einer schmalen Stelle im Norden der Nordinsel Neuseelands mit Meerverbindung auf beiden Seiten, also Wasser überall.
Ich sah die Hochhäuser der City unter mir, einige mit Tennisplatz oder Helikopterlandeplatz auf dem Dach, die vielen alten Vulkane (mehr als 50 davon gibt es in Auckland). Den eindrucksvollsten von diesen, Mt. Eden, haben wir erstiegen. Ich erkannte die Parks, den Hafen mit den unzähligen Segelyachten (Auckland wird auch "City of the Sails" genannt) und das große Museum, Stellen die wir zu Fuß erkundet haben. Es war eindrucksvoll. Ich ging als letzter in der Gänsemarsch-Gruppe und hörte nur wenig von dem was Antony erzählte.
Der Laufsteg lag auf gleicher Höhe wie das sich langsam drehende Restaurant. Die Leute an den Fenstertischen sahen unablässig auf uns und machten Bilder. Sicher etwas zu zeigen zu Hause: Mittagessen mitten im Himmel und vor dem Fenster verrückte Spaziergänger und Nachuntenspringer!
Ein richtiger Fan begleitete uns begeistert im Restaurant mit seiner Kamera über die gesamten 360 Grad. Es war der Dicke, der nicht mitdurfte, der Mann einer der Frauen in unserer Gruppe.
Ich war mir jetzt schon sicher, dass dieser halbstündige Spaziergang sein Geld wert war. Wenn man schwindelfrei ist und nach Auckland kommt, ist dieses harmlose aber eindrucksvolle Abenteuer am Ende des Aufenthalts stark empfehlenswert.
Der Sprung
Als wir wieder in der Mission Control angelangt waren und uns aus dem Overall gepuhlt hatten, sagte ich zu Gullan: Jetzt buche ich den Sprung.
Sie zuckte erst die Axeln, dann zückte sie die Brieftasche und wir gingen zum Schalter. Noch einmal ein Formular ausfüllen.
Das Personal hatte jetzt Mittagspause und mein Sprung sollte in ca. 1 Stunde stattfinden. Ich fragte, ob man ein professionelles Video kaufen konnte, auf dem man eine Aussichts-Rundtur (ohne Gruppe) miterleben kann und wo die interessantesten Plätze, die man sieht, benannt werden. Hatten sie nicht! Sie machen nur Bilder und Videos von den beteiligten Walkern und Jumpern, da diese leicht zu verkaufen sind. Ich gab meiner Meinung kund, dass ein Video, das die Stadt aus dieser besonderen Rundtour-Perspektive zeigt, doch ein allgemeines Touristen-Interesse haben müsste und die Herstellungskosten relativ gering sein dürften. Der Schaltermann nickte zustimmend und wollte die Idee weitergeben. Ich fügte an, dass ich mich als Ideegeber mit 20% begnügen würde. Vielleicht kann man in Zukunft so ein Video ja wirklich kaufen. Werde dranbleiben.
Wir gingen weiter in dem großen Gebäude und kamen in einen Raum, in dem man laufend einen interessanten Film über Auckland von früher und heute zeigte.
Danach war es Zeit für die Vorbereitungen für den Sprung vom Turm. Zurück zur Mission Control. Außer mir war noch ein junger Mann für diese Zeit angemeldet. Es gab eine ähnliche Informations-, Kontroll- und Ankleideprozedur wie vorher, diesmal jedoch mit einem blau-gelb-roten Overall. Außerdem wurden wir sorgfältig gewogen. Ich brachte genau 78 kg (doppelte Bekleidung!) auf die Waage. Dies wurde auf einem Zettel notiert, den ich oben dem Bremser an der Seilrolle abgeben sollte. Außerdem wurde das Gewicht sicherheitshalber auch auf meinem Handgelenk geschrieben. Das Gewicht ist von äußerster Wichtigkeit für den computergesteuerten Bremsvorgang beim Landen. Ein grober Fehler hier und die gewünschte Sanftlandung auf den Füßen wird ersetzt durch einen harten Aufschlag auf dem Boden.
Der junge Mann und ich fuhren mit dem Aufzug nach oben, ohne Begleitung. Wir fanden die Tür zu einem Vorraum neben der Absprungplattform. Einer muss gerade gesprungen sein, da das Stahlseil rasend schnell und mit einem ohrenbetäubendem Lärm von der Rolle ablief. Mein junger Mitspringer ließ mir lässig den Vortritt. Ein junger Mann (eigentlich waren überall nur junge Männer) öffnete eine Gittertür zur Absprungplattform und ließ mich herein, bzw. hinaus. Jetzt wurde es ernst. Der Bremsenmann nahm meinen Gewichtszettel, verglich das darauf notierte Gewicht mit dem auf meinem Handgelenk, fragte nach meinem Namen und bekam bestätigt, dass er den richtigen Springer vor sich hatte.
Danach koppelte sein Kollege mich und sich selbst an ein mitlaufendes Sicherheitsseil am Boden. Danach befestigte er das Bremsseil an die Vorrichtung an meinem Rücken. Es war ein lockerer Typ und erzählte Dinge, die ich nicht alle verstand.
Ich spürte eine gewisse Spannung aber keine Angst. Ich kam als Segelflieger einige Male in unerwartete, schwierige Situationen. Aus Erfahrung wusste ich, dass mein Puls dabei nicht beschwerend steigt. Ich konnte immer kühl reagieren. Hier ging es nur um den kurzen Augenblick des sich Los- und Fallenlassens. Der Rest dürfte reines Vergnügen sein.
Mein Assistent führte mich nach vorn zur Kante. Meine Hände hatte ich links und rechts an einem Haltegriff, den Körper leicht nach vorn geneigt. Ich dachte: „Wenn ich jetzt loslasse, falle ich.“ Ich ließ aber nicht los, war ja noch mit einem anderen Seil am Boden gesichert. Ich sah rechts und links die Stabilisierungsseile, die unten im Boden verankert sind. Von dem Bremsseil an meinem Rücken streckten sich zwei dünne Seile, die beim Fall an den Stabilisierungsseilen abgleiten. Dadurch wird ein Baumeln des Körpers während des Fallens so nahe an der Turmwand verhindert. An dem rechten Seil ist außerdem eine mitlaufende Videokamera installiert, die die Talfahrt aufnimmt und auch live auf die Fernsehgeräte in der Mission Control überträgt. Alles wie bei der NASA, dachte ich. Man sagte mir, dass ich bei dem kurzen Stopp nach einigen Metern Fall in diese Kamera gucken soll.
Der junge Mann fragte mich, ob ich bereit bin und springen will. „Yes, Willi will!“ Er schaute zum Bremser, bekam das Klarzeichen, koppelte mich vom Boden los und zählte: One, two, three – go. Ich ließ los und fiel nach unten. Ich war darauf vorbereitet, dass ich gleich wieder abgebremst werden würde. Das gehört mit zum Konzept und schafft weniger Zweifler, vielleicht auch mehr Sicherheit. So war es bei mir auch. Es war viel einfacher „ja“ zu sagen, wenn man einen Sprung von unten beobachtet und sieht, dass man nicht direkt ins Bodenlose springt. Ich kam mir jetzt aber ein bisschen blöd vor als ich da hing und versuchte, die Kamera mit den Augen zu finden.
Gleichzeitig schätzte ich aber die Einmaligkeit der Situation: Du hängst da am höchsten Fernsehturm der südlichen Hemisphäre und schaukelst leicht im Wind und siehst ca. 170 m unter dir die Straßen, Gehsteige, Autos, Menschen und die Landemarkierung, die ich wenige Sekunden später genau treffen werde. Gullan wird dort stehen und die Kamera bereithalten.
Dann wird die Bremse gelöst und ich bekomme ein richtiges Freifallgefühl, spüre den Luftzug im Gesicht und sehe die Ringe der Landestelle auf mich zurasen. Laut Angabe fällt man 11 Sekunden mit ca. 90 km/h. Die Fahrt geht viel zu schnell zu Ende. Der Abbremsung erfolgt schätzungsweise auf den letzten 20 Metern. Der Bremscomputer hat wieder gute Arbeit geleistet. Ich werde nur minimal zu weit unten abgesetzt und knicke etwas mit den Knien ein. (Ich sah eine Landung wo der Körper beim Abbremsen in der Waagerechten verblieb und es gab eine regelrechte Bauchlandung, wenn auch eine nicht allzu harte. Es muss an der Gewichtsverteilung im Verhältnis zum Angriffspunkt des Seils am Rücken gelegen haben.)
Gullan hatte die Geistesgegenwart und machte ein Bild kurz vor der Landung.
Die Mutter des Jungen, der gleich nach mir kommen sollte, fragte mich ob es schlimm war, sie hatte Angst um ihren Sohn. Ich konnte sie beruhigen und ihr Sohn auch: er stand kurz danach glücklich lächelnd neben ihr.
Dann kam - sozusagen als Zugabe - noch ein besonderer Abgang, auf alle Fälle gefühlsmäßig: Wir gingen in unserer bunten Uniform und aufgrund der stramm gezogenen Riemen ziemlich steifbeinig die Landeterrasse hinunter auf den Vorplatz des Turmes zum Eingang des Gebäudes. Mittlerweile waren viele Leute hier unterwegs. Wir fielen auf in der Menge und ich fühlte mich ein bisschen wie ein Astronaut nach einer Landung in Cape Canaveral.
Das Fazit
Eine ungeplante aber herausragende Bereicherung. Wenn ich in Zukunft „Auckland“ höre, werde ich „Walk“ und „Jump“ denken.
Müsste ich wählen zwischen beiden, dann nähme ich den "Walk", den Rundgang. Er gibt beides, eine gewisse Herausforderung und ein tolles Aussichtserlebnis über eine tolle Stadt.
Jetzt steckt nur noch eine kleine Herausforderung in meinem Hinterkopf. Etwas, was ich 2006 an der Sunshine Coast in Australien gesehen hatte und bei unsere Reise 2008 hoffte machen zu können: Ein Tandem-Fallschirmsprung mit Landung auf einer der herrlichen Sandstrände.
Außerdem habe ich ca. 150 Mal einen Fallschirm am Rücken gehabt (beim Segelfliegen) aber (zum Glück) nie benutzen müssen. Eine gewisse Frustration diesbezüglich ist aber immer noch vorhanden.
Aber es sieht so aus, dass es diesmal nichts draus wird. Ich bin immer noch nicht richtig fit nach einer Woche schwerer Grippe.
(Anm.: 2013 machte ich diesen Fallschirmsprung "mit Landung auf einer der herrlichen Sandstrände", siehe Reisebericht "AU 2013 Geschichte eines Traums".)
Ich schrieb diesen Auckland-Bericht am 28. März 2010, in „unserem“ Luxus-Haus in Sunshine Beach (bei Noosa), 400 m von einem dieser feinen Sandstrände. Eines der Luxushäuser in Superlage, die wir kostenlos bewohnen durften, dank der genialen Möglichkeit des Wohnungstausches via z.B. HomeLink. Noch zwei weitere Wochen werden wir hier verbringen. Dann werden wir "weiterziehen" und uns mit einem weiteren Australien-Wohnerlebnis bereichern.
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© Willi Grigor, 2010 (rev. 2016)
Gedichte und Prosa:
https://www.literatpro.de/willi-grigor