11 – Lebenssplitter "Oma Hedwig"

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von Heide Nöchel (noé)

Oma Hedwig

Ich hatte zwar keinen Großvater erleben dürfen, dafür aber hatte ich drei Omas. Die kann auch nicht jedes Kind vorweisen!

Oma Hedwig war die Mutter meines zweiten Vaters und gleichzeitig zweiten Ehemannes meiner Mutter. Sie kam als Spätaussiedlerin aus Schlesien, genauer aus Steinau an der Neisse, denn mein zweiter Vater war - wie meine Mutter - auch aus Schlesien gebürtig.

Wenn Oma Hedwig überhaupt redete, war es nur ein schüchternes Flüstern, kaum hörbar, manchmal verhaspelte sie sich dabei - wie mein Vater, wenn er aufgeregt war. Meist lächelte sie nur irgendwie defensiv. Sowieso war sie nur ein Windhauch von Person, abgesehen von ihren breiten Hüften. Sie lief stets, wie sie es vom Dorf her gewohnt war, in dem sie ihr Leben lang gelebt hatte, mit einer Kittelschürze in gedeckten Farben über ihren Kleidern aus dunklem, kleingemusterten Baumwollstoff in der Wohnung umher. Nach draußen ging sie alleine schon mal gar nicht, es war ihr wohl alles viel zu fremd. Sie hatte nur noch schütteres, graugesträhntes Haar und das trug sie immer, eng an den Kopf anliegend, zu einem langen dünnen Zopf geflochten und dann am Hinterkopf mit langen Nadeln zu einem Knust gesteckt.

Meine Eltern hatten sie mit wirklich weit offenen Armen aufgenommen, mein Vater war ihr einziger Sohn. Dass sie acht Kinder zur Welt gebracht hatte, von denen fünf überlebt hatten, traute man ihr kaum zu, so winzig wie sie erschien. Die Drei-Zimmer-Küche-Bad-Balkon-Wohnung in Lehe, zur damaligen Zeit noch ein gutbürgerlicher Stadtteil von Bremerhaven, war eigentlich viel zu klein für eine jetzt siebte Person, dennoch war die Herzlichkeit echt, mit der sie willkommen geheißen worden war.

Oma Hedwig genoss die Zuwendung nicht wirklich, denn alles schien ihr peinlich zu sein. Auch zum Essen musste man sie fast zwingen. Meine Mutter gab sich alle Mühe mit ihr, fragte sie immer, was sie gerne essen würde, bereit, sie mit allen gewünschten Leckereien zu verwöhnen nach dem entbehrungsreichen Leben, das sie bis dahin gehabt hatte, aber immer war ihr alles gerade so recht, wie es war.

Beim Abendbrot konnten wir beobachten, wie bescheiden sie bis ins Innerste war: Die große Scheibe Bauernbrot, die auf ihrem Teller lag, bekam Butter – oder auch nur Margarine – nur von Weitem zu sehen, ein dünner Hauch, kaum wahrnehmbar. Und dann die Krönung: Eine einzige Scheibe Salami, keine große Scheibe, eine von vielleicht 5 cm Durchmesser, wurde direkt an den Anfang der Scheibe Brot gelegt. Dann wurde diese Scheibe Brot langsam und andächtig zum Mund geführt. Und unmittelbar vor dem Zubeißen kam eine geschickte Aktion, so schnell, dass man genau hinsehen musste, um sie wahrnehmen zu können: Im Sekundenbruchteil wurde die Scheibe Wurst auf der Scheibe Brot mit dem haltenden Zeigefinger gerade so weit nach hinten gezogen, dass die Zähne nur das Brot trafen. Das ging so, Bissen für Bissen, bis nur noch so viel Brot übrig war, dass die Scheibe Wurst nirgendwohin weiter weggeschoben werden konnte. Und erst dann aß sie mit Hingabe beides zusammen, Brot und Wurst.

Wir konnten sie nie davon überzeugen, dass sie Wurst auch ziegelartig auslegen könne auf dem Brot, Scheibe über Scheibe, es sei alles reichlich vorhanden. Nein, sie nahm alle Scheiben wieder herunter, lächelte entschuldigend stumm und ganz breit, vermied Augenkontakt und aß wieder nur ihre „Schiebewuscht“. Wie WIR nicht verstehen konnten, dass sie nicht zugriff, wenn sie es doch nun konnte, konnte wohl SIE nicht verstehen, dass wir es – in ihren Augen – so verschwenderisch taten.

Und vielleicht war auch dieses In-sie-Dringen der Grund, dass sie sich nach wenigen Monaten entschloss, zu einer ihrer dort verheirateten Töchter nach Berlin zu ziehen, wo sie bis zu ihrem Lebensende geblieben ist. Der Kontakt war dann nur noch sporadisch, beschränkt auf Familienfeiern aus fröhlichem oder meistenteils weniger fröhlichem Anlass. Ihre stumm-zurückhaltende Wehmut umgab sie selbst dann, wenn sie lächelte.

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