Wenn die Bummelzüge der Ammerfelder und Lerchenheimer Fahrschüler aus irgendwelchen Gründen Verspätung hatten, was im Winter häufig vorkam, und wir Weidenbacher während des längst begonnenen Unterrichts die Nachzügler auf dem Korridor heranlärmen hörten, übertönte Marcs energische raue Stimme selbst das hurtige Getrappel der heraneilenden Füße.
Anlässlich eines neuen Schuljahres suchte ich mir ohne jeden Hintergedanken einen der vorderen Plätze in der Bankreihe gegenüber der Fensterfront aus, die die gesamte Länge des Klassenraums einnahm. Marc hingegen saß parallel zum Lehrerpult, an einem der Quertische auf der Jungsseite - in der dritten Reihe, wenn ich mich nicht irre. Jedenfalls hatte ich nicht nur freie Sicht auf den kleinen drahtigen Kerl mit dem lockeren Mundwerk, sondern darüber hinaus auch auf meine Freundin, was des Guten fast zuviel war; denn wir wurden – von Angesicht zu Angesicht und nah beieinander, zwischen uns saß lediglich Ortrud, die kein wirkliches Hemmnis und schon gar keine Pufferzone zwischen uns war - nicht selten von aberwitzigen, nicht enden wollenden Lachkrämpfen geschüttelt, die aus unserer damaligen Sicht nicht nur begründet, sondern unvermeidbar waren.
Mir ist bis heute in lebhafter Erinnerung, dass ich damals stundenlang darüber nachsann, weshalb Marc während der Pausen und in der kurzen Zeit vor dem Unterricht, wenn noch kein Lehrer anwesend war, unentwegt „den großen Zampano“ spielen musste. Bevor mir klar wurde, dass er weit über das normale Maß hinaus mein Interesse weckte, war sämtlichen Banknachbarn, die neben, hinter und vor ihm auf ihren Plätzen hockten und uns Mädchen ganz offensichtlich mehr Beachtung schenkten als dem Unterricht, längst aufgefallen, dass ich „ein Auge auf ihn geworfen“ hatte, und sie machten ihn mit einer Prise großväterlicher Gönnerhaftigkeit, indes weit weniger feixend, als ich ihnen zugetraut hätte, darauf aufmerksam.
Mir hingegen war bis zu jenem Zeitpunkt gar nicht bewusst gewesen, dass ich Marc kaum noch aus den Augen ließ; sein auffälliges Verhalten faszinierte mich auf unerklärlicher Weise, und ich zermarterte mir nach jedem seiner Temperamentsausbrüche das Hirn: – 'Weshalb? - Wieso? Und bitte nicht schon wieder, Marc! Kann der nicht einmal seine große Klappe halten?', kam jedoch zu keinem vernünftigen Ergebnis. Dabei lag es auf der Hand: Marc wollte mit seinem auffälligen Benehmen seinen kleinen Wuchs kompensieren; er war um einiges kürzer geraten als seine Mitschüler; aber dass er deshalb unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden könnte ... darauf wäre ich nie im Leben gekommen. Er hatte nicht nur weit mehr Charme als seine Klassenkameraden, sondern sah, zumindest was meinen Geschmack betraf, auch viel besser aus. Hinzu kam, dass er durchweg sportliche, moderne Kleidung trug, die seine schlanke Figur optimal betonten.
Ich weiß nicht, inwieweit sich Marc durch meine „Studien“ beeinflusst oder gestört fühlte und habe ihn später auch nie danach gefragt ‑ jedenfalls kam ich mir bald wie eine Psychologiestudentin vor, ohne jemals auch nur ein Wörtchen von Professor Freud und Kollegen gehört, geschweige denn gelesen zu haben, und tagträumte davon, dass Marc, der Ahnungslose, und ich eines Tages als Therapeuten zusammenleben und -arbeiten würden – bis eines Tages unser Klassenlehrer meine Illusionen zerstörte und Marc eröffnete, dass es besser für ihn sei, wenn er für ein, zwei Jahre zurück auf die Gesamtschule ginge. Es war nicht zu übersehen, dass Marc von dieser Entscheidung tief betroffen war, und er tat mir wahnsinnig leid.
Jene Schule, in die er zurück sollte, befand sich in einer anderen Stadt, und ich war zu Tode betrübt, weil dieser Wechsel zwangsläufig unsere „Trennung“ zur Folge hatte. Ich musste mich damit abfinden, dass ich ihn vielleicht nie mehr, bestenfalls irgendwann einmal, wiedertreffen würde, per Zufall, was jedoch dermaßen unwahrscheinlich war, dass ich diese Möglichkeit erst gar nicht in Betracht zog.
Erst an jenem Tag, als sein Platz in der Bankreihe leer blieb, ist mir klar geworden, dass ich mich in ihn verliebt hatte, aber da war es zu spät. Sein Fortbleiben schmerzte mich so sehr, dass ich fast physisch daran erkrankte, und ich brauchte fast ein Jahr, bis ich "den Verlust" überwunden hatte.
Als ich Marc endlich wiedersah, nach gut sieben Jahren, waren wir beide ‑ mehr oder weniger – erwachsen; ich hatte kurz zuvor geheiratet. Marcs Eltern leiteten ein privates Altersheim, worin mein Großvater ein Zimmer bezogen hatte. Ich dachte kaum noch an Marc, und dass er mir, wenn ich bei Opa Meinhard einkehrte, in dem weitläufigen Anwesen über den Weg laufen könnte, kam mir gar nicht in den Sinn.
Bei einem meiner Besuche, ich saß mit Opa Meinhard in einer schattigen Gartenecke bei Kaffee und Kuchen, schlenderte Marc über den Rasen auf uns zu, und weil er, genau wie ich, nicht wesentlich an Körpergröße zugelegt hatte, erkannte ich ihn sofort. Wir lächelten uns an, gaben uns die Hand, und die Freude über unser Wiedersehen spiegelte sich in seinen Augen und in den Zügen seines schmalen Gesichts. Er war ganz der Alte geblieben. Ich war nach jener Begegnung sehr aufgewühlt, obwohl wir nur wenige Worte miteinander gewechselt hatten.
Als Opa Meinhard kurze Zeit später verstarb, vermisste ich in seinem Nachlass sämtliche Fotos, auf denen ich abgelichtet war. Ich wähnte sie in Marcs Besitz und glaubte damals fest daran oder hoffte zumindest, dass Opa sie ihm überließ, weil er ihn flehentlich darum gebeten hatte. Tatsächlich jedoch blieben die Fotos wie vom Erdboden verschluckt, bis wir sie ... aber das wäre vorweggenommen. Ich verrate nur so viel: Marc ist fest davon überzeugt, dass Brendas vereinsamte gute Seele selbst in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Fortsetzung folgt