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Erfolgen, welche seinen Übungsaufwand belohnen … zugesteht, wieso sollte man dies dem Neuvegetarier oder dem Durchhalteveganer verweigern?
Die „Schuld“ des fleischlos Lebenden besteht darin, dass er aus der sich traditionell ernährenden Gesellschaft ausbricht. Der Gruppenzwang macht ihn zum Außenseiter und gleichzeitig hält er den in der Gruppe Verbleibenden einen grell gleißenden Spiegel vor. Er sagt quasi ohne Worte: „Schaut, ich habe es geschafft (was ihr nicht könnt). Ich zeige auch keine Reue. Ich achte die Tiere ... “
Kein Wunder, wenn auch in den hartgesottensten Carnisten gewisse Zweifel aufkommen. „Bin ich eigentlich der Tierfreund, für den ich mich immer gehalten habe?“, müsste sich mancher fragen und schon wäre das Tor zu unangenehmen Gedanken geöffnet, welches man doch schon so gut erfolgreich verbarrikadiert hat. Da ist es viel einfacher, den Vegetarier als harmlosen Sonderling oder halbgefährlichen Spinner anzuschauen. Man kann sich zur Not ja auf Immanuel Kant berufen, welcher den Menschen als so erhaben über den Tieren stehend ansieht, dass er jenen gegenüber keinerlei moralische Verantwortung habe. (Gerade vom letzten Universalisten Kant ist so eine Aussage nur zu verstehen, wenn man auch ihn auf gnädige Weise als einen Menschen ansieht, der trotz allen Genies im engen Denkkorsette seiner Zeit eingequetscht war.)
Man muss der Wahrheit die Ehre geben, indem man eingesteht, dass Vegetarier schon Gefahr laufen, sich als Menschen mit einer (noch) besonderen Lebensform gewissermaßen auch als besondere Menschen zu betrachten – ob sie moralisch gesehen die „besseren“ sind, sei dahingestellt. Hier unterliegen sie unverschuldet der bereits angesprochenen Gruppendynamik, welche ein Wir-Bewußtsein entwickelt hat. In jeder Minderheit baut sich zudem ein elitäres Bewusstsein auf (vgl. Judentum: „Wir sind das auserwählte Volk.“) und davon kann auch die Minderheit der Vegetarier nicht verschont bleiben.
Ich denke gerade daran, dass ich es als Kind immer so lustig fand, wenn mein Onkel voller Begeisterung berichtete: „Heute haben wir wieder gewonnen!“ Gemeint war die Mannschaft des FC Bayern. Mein Onkel mag die Spieler wohl angefeuert haben, aber während er auf der Tribüne gemütlich sein Cola trank und sich die Beine in den Leib stand, rannten sich die Fußballspieler ihre Seele aus demselbigen ... sie hatten wirklich gewonnen, nicht „wir“! Aber so arbeitet eben das Gruppenbewusstsein!
Auf alle Fälle sei es den „Fleischlosen“ ans Herz gelegt, wenigstens nach außen hin, bescheiden zu bleiben. Ebenfalls ist von „Missionierungsversuchen“ dringend abzuraten. Jeder fange bei sich selbst damit an, wenn es sein muss, und kümmere sich um sich selbst, dann hat er (s)ein Leben lang viel zu tun! „ Zwangsvegetarisierung“ anderer macht unbeliebt, demütigt andere und dient keiner noch so guten Idee! Pestalozzi sagt: „Erziehung ist Beispiel und Liebe.“
Nicht das, was ich sage, ist ausschlaggebend, sondern ob ich überzeugt und damit überzeugend danach lebe und – ob ich den anderen „liebe“, das heißt, in seinem Anderssein oder trotz seines Andersseins annehme. Wer also seine fleischlose Lebensweise geduldig vorlebt, auf diesbezügliche Fragen möglichst emotionsfreie Antworten gibt, gewinnt Sympathie und damit Sympathisanten.
Gemäß den Lehren der Lernpsychologie übernehmen wir freiwillig nur von einem Menschen Denk- und Verhaltensweisen, der uns sympathisch ist. Da uns niemand dazu zwingen kann, unsere Ernährungsweise zu ändern, kommt es eben gerade auf diese „Freiwilligkeit“ an.
Bisweilen nimmt das Gefasel vom „besseren Menschen“ sogar skurrile Züge an: Während die fleischlose Seite gerne den allgemein geschätzten Albert Schweitzer als „Paradepferd“ anführt, versuchen die Carnisten mit Vegetariern wie Adolf Hitler, Rudolf Heß und anderen zu „beweisen“, dass Vegetarier nicht die besseren Menschen seien. Für derartig niedriges Gedankenniveau ließen sich zur Beurteilung nur Noten vergeben, aus denen man nicht einmal Trauermärsche komponieren könnte!
Gedanken zum Carnismus und seiner ihn tragenden Weltsicht
Es ist inzwischen klar geworden, dass hinter der vegetarischen bzw. veganen Lebensweise weit mehr steckt, als nur die Ablehnung von Fleischerzeugnissen oder die Jagd nach dem nächsten Salatteller.
Pelz- und Lederbekleidung, Lederschuhe ... mit Tierversuchen erforschte Kosmetika und Medikamente, Süßigkeiten mit Gelatine und vieles mehr, was bislang ganz normal konsumiert wurde, wird jetzt problemträchtig. Wer mit dem Hinterfragen einmal begonnen hat, bleibt ihm verhaftet. Erst nach längerer Umstellungszeit wird alles wieder ganz „normal“ und man fühlt sich in seiner fleischlosen Welt wohl, eigentlich wohler – da bewusst lebender – als vorher, zumindest solange man nicht „vom anderen Lager“ gehänselt wird oder sich diesem gegenüber andauernd - ohne Grund! - rechtfertigen muss. Die Erfahrung lehrte mich, dass üblicherweise auch die Gegenseite umso schneller zu
ermüden pflegt, je sicherer man auftritt und je weniger man sich aus deren Attacken zu machen scheint. Entweder wird man dann respektiert und sogar mit Entgegenkommen verwöhnt („Schau, das habe ich extra für Dich ohne Eier, dafür mit Banane und Seiden-Tofu gebacken“), bestenfalls dient man als Vorbild, schlechtestenfalls gilt man als mäßig bis massiv überdreht. In letzterem Falle möge man sich an Wilhelm Busch halten, der da – zum Troste gereichend - sagt: “Und ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt man gänzlich ungeniert.“
Die „Normalesser“ haben es – wie bereits erwähnt - wesentlich leichter, da sie sich in der Mehrheit befinden. Außerdem schmecken ihnen ihre Fleischgerichte so gut, dass sie glauben, nicht darauf verzichten zu können – was sie auch gar nicht wollen. Argumente, welche ihre Ernährungsweise (zu) bekräftigen (scheinen), wurden bereits angesprochen. Das „beste“ (und zugleich schwächste) ist die Berufung auf die Tradition, auf das, was immer schon so war und deshalb weiterhin so sein muss.
... und auch damit bewegen sie sich wieder in Traditionen, von denen wenigstens einige glücklicherweise schon längst abgeschafft sind:
1. Die „gottgewollte“ Sklaverei
2. Die bäuerliche Leibeigenschaft
3. Die Unterdrückung der Indianer und ihre Einpferchung in Reservaten
4. Das Frauenwahlrecht (nicht nur in der Schweiz)
5. Das Verbot des Ärzteberufs für Frauen
6. Die Kinderarbeit
7. Die Unterbezahlung illegaler Arbeiter aus Ostländern
8. Die Rolle der Frau in der heutigen kath. Kirche
In Dankbarkeit
Marion gewidmet, dafür, dass sie mich
an ihren ebenso durchdachten wie (selbst)kritischen
Überlegungen zu nämlichem Themenkreise teilhaben
ließ ...
den Nachwuchsvegetariern Susanne und Norbert P.
in Anerkennung ihrer aufrichtigen Bemühungen um eine
tierschonende Ernährungsweise ...
meiner Ehefrau Anni, welche es großzügig toleriert,
dass ich in dieser und ähnlichen Schreibarbeiten stunden- und
oft nächtelang meine Gedanken zu ordnen versuche ...
und unserer Resl, welche mich – erfindungsreich wie sie ist -
ständig mit neuen veganen Kuchenkreationen überrascht, obwohl
sie selbst „das Gelumpe“ nicht isst.
Alfred Krieger
Haselbach, 23.IX.2015