„Nicht springen, bitte“, sagt Paul, als Cora ihr rechtes Bein über das hüfthohe Geländer schwingt, das den Dachgarten säumt. Aber Cora will gar nicht springen; sie will sich einfach nur fallen lassen, um sich nie wieder erinnern zu müssen.
Das überlebt niemand, denkt sie, als sie unter sich die winzigen Menschen sieht: Schachfiguren, die sich durch ein Leben schieben, das sie gründlich satt hat.
„Den Sprung hat neulich mal einer überlebt“, sagt Paul. „Ein junger Mann, knapp neunzehn. Ist jetzt vom zweiten Halswirbel an gelähmt und muss künstlich beatmet werden.“
„Glaubst du ja selber nicht … aus dieser Höhe … das überlebt niemand“, sagt Cora.
„Liest wohl keine Zeitung“, sagt Paul. „Da stehen Schicksale drin; ich könnte dir ...“
„Zieh Leine, Bulle“, unterbricht ihn Cora, „du nervst.“
„Ich heiße Paul.“ - Er starrt auf die Bandagen an ihren Handgelenken; sie hat sich vor acht Tagen die Pulsadern aufgeschnitten.
„Wegen eines Lumpen, der von Zuhälterei lebt?“, fragt Paul.
„Lügner!“, ruft Cora und wirf ihm einen zornigen Blick zu.
„Schau in seine Akte; sie liegt im Präsidium.“
Paul streckt seine Hand aus. „Komm“, sagt er.
„Willst dich wohl als Lebensretter aufspieln, 'ne Medaille kassiern?“
Cora schiebt ihr linkes Beim über das Gitter und stellt es neben das rechte auf die Dachkante des Zehngeschossers. Die Spitzen ihrer Winterstiefel ragen in die Luft. Ihre Hände sind blau gefroren und klamm; sie hält sich mit einer Hand am Gitter fest und schwingt vor und zurück und wieder vor und wieder zurück …
„Hör bitte auf damit, das ist gefährlich“, sagt Paul.
„Du bist irre komisch, weißt du das, Bulle“, sagt Cora.
Sie dreht ihren Kopf zur Seite, schaut ihn an und lacht. Ihr Lachen klingt schrill, aber Paul weiß, dass die Verzweifelung mitlacht.
Vier knappe Meter, denkt Paul, „nur vier knappe Meter und dieses verdammte Drahtgeflecht trennen uns noch.
Er macht einen Schritt auf das Gitter zu.
„Bleib, wo du bist“, schreit Cora, „oder ich springe!“
„Das willst du doch eh; dann spring doch endlich, bevor ich mir hier den Hintern abfriere“, sagt Paul.
Er fängt gerade noch ihren Blick auf, als er losläuft, spürt während seines jähen Sprints ihren lebensmüden, todtraurigen Blick, der wie ein Dolchstoß durch sein Herz zuckt.
Zwei kurze Sätze und er steht vor dem Gitter; ein Wimpernschlag, und er hat sie an den Schultern gepackt und über das Drahtgeflecht gehoben.
Ein Glück, dass sie so klein und leicht ist, denkt Paul.
„Schau, dort drüben“, sagt er zu dem zitternden Mädchen, das sich aus seiner Umklammerung befreien will. „Der 'Michel' unter seinem Schneerock sieht heute wie der Zuckerhut in Rio aus.“
Sie antwortet nicht, starrt teilnahmslos vor sich hin.
Gerade noch mal gutgegangen, denkt Paul, als Cora im Dienstwagen seiner Kollegin sitzt, die im Schutz der Aufbauten um ein gutes Ende gebibbert hat.
Er streift sich mit dem Handrücken den Schweiß fort, der trotz der lausigen Kälte auf seine Stirn gekrochen ist.
Er hat sich angewöhnt, alles auf eine Karte zu setzen, macht sich die Schocksekunden zunutze, die seine rüden Sprüche bei den Lebensmüden auslösen – kostbare Zeit, die ausreicht, sie aus den Gefahrenzonen zu bringen. Das hat bislang jedes Mal funktioniert – besser als früher, als er stundenlang ohne Erfolg auf die Gefährdeten eingeredet hat.
Damals, während seiner Ausbildung zum Polizeikommissar, nachdem er erfahren hatte, dass alljährlich mehr Menschen durch Suizid als durch Straßenverkehrsunfälle und Tötungsdelikte zusammen ums Leben kommen, wäre er fast vom Glauben abgefallen. Die weltweiten Zahlen hatten ihn empört. Er fand diesen Zustand unerträglich.
Ich riskiere mehr, als die Polizei erlaubt, von meinem Job einmal ganz zu schweigen, denkt Paul; aber bislang hat sich noch keiner der Lebensmüden bei seinen Vorgesetzten beschwert, und alle waren früher oder später froh, dass er sie vor dem Sprung in die Tiefe bewahrt hat.
Er ist stolz darauf, zehn Menschen das Leben gerettet zu haben, obwohl seine unorthodoxe Methode weiß Gott nicht das ist, was in den Psycho-Seminaren gelehrt wird, an denen er selbstverständlich teilgenommen hat.
Das war meine letzte Rettungsaktion, die ich auf die „fiese Tour“ durchgezogen habe, denkt Paul. Er will das Schicksal nicht länger herausfordern. Er hätte es sich nie verziehen, wenn Cora schneller gewesen wäre als er.
Nach jedem solcher Einsätze hat er sich vorgenommen, sich um seine Schäfchen zu kümmern. Ist nie was draus geworden. Die Zeit reichte einfach nicht aus. Dann ließ sich auch noch seine Frau von ihm scheiden, weil ihr sein prallvoller Dienstplan nicht mehr gepasst hat. - Er hatte wahrhaftig genug eigenen Sorgen.
Das liegt nun auch bald zwei Jahre zurück.
Aber Cora will er nicht mehr aus den Augen verlieren. Sie lebt in einer Wohngemeinschaft. Ihr Vater sitzt in 'Santa Fu' wegen Scheckbetrugs ein, kein übler Kerl, aber sehr labil, kriegt seit Jahren kein Bein auf die Erde, und ihre Mutter ist mit ihrem neuen Lover nach Südamerika ausgewandert.
Sie kam mit Cora nicht mehr zurecht und hat sie in Hamburg zurückgelassen.
Ich muss mich um sie kümmern, denkt Paul auf der Rückfahrt zum Revier.
Ich muss nicht, ich will, denkt er wenig später, während er das Dienstprotokoll unterzeichnet.