Einmal kommt der Mann um elf zurück vom Umtrunk mit den Leuten vom Reuenthaler Filmclub. Die Wohnung ist leer.
Der Mann isst, macht sich eine Zigarette an. Er hört Frank Sinatra und wartet.
Aber der Junge kommt nicht.
Um eins geht der Mann ins Bett. Eine Viertelstunde später, der Mann hat gewichst, das Papieraufwischtuch ins Klo gespült, klingelt es. Es klingelt hartnäckig.
Der Mann jault: „Arschloch!“, angelt nach seinen Schlappen.
Das Klingeln hört auf, fängt wieder an. Der Mann an der Sprechanlange: „Ja?“
„Ich.“
Der Mann lässt ihn rein. Während er auf der Treppe ist, schlüpft er in Shirt und Hose.
„Hallo. Ich hab einen Hunger!“
Er legt zwei Musik-Cassetten auf den Tisch.
„Wo kommst du her um die Zeit?“
„Ich war weg. Da fällt einem die Decke auf den Kopf.“
„Ich war schon lang im Bett. Du hast Glück, dass ich’s noch mitgekriegt hab. Das nächste Mal stehst du dann drunten. Ein Zettelchen wär auch nett, weißt du?“
„Jawohl, der Herr!“
Der Junge lacht. Ihm geht’s gut heute Nacht.
„Wo bist du gewesen? Im Park?“
„Was soll ich da? Ich war nur so auf Achse.“
„Und wo ist das?“
„Ich hab mir meine Cassetten geholt. Ich lass sie gleich laufen.“
Der Junge haut die eine ins Deck. Er drückt auf Play. Nichts geht. Er hätte das Gerät vorher einschalten sollen.
„Scheißdreck! Der Müll, den du hast, ist aller nix wert.“
Der Mann macht Cassettendeck und Verstärker sofort wieder aus.
„Jetzt ist mitten in der Nacht. In diesem Haus schlafen Leut, die zur Arbeit müssen. Krach-Musik gibt’s heut keine mehr.“
„Ich mach sie leis.“
„Timo, ich hab den Nerv nicht. Ich war mehr oder weniger eingeschlafen.“
Der Junge kichert. Ihm geht’s gut.
„Dir scheint’s gut zu gehen.“
„Du. Ich hab ein Piece eingefahrn! Das glaubst du nicht. So’n Trumm!“
Timo lacht. Wie so oft klingt die Lache ganz falsch und ziemlich freudlos. Wenn er lacht, bekommt man Angst.
Der Mann umarmt ihn. Er streichelt ihm den Rücken. Er versucht zu küssen. Der Junge tut den Kopf fort.
„Gibt’s was zu essen?“
„Erst sagst du, wo du gewesen bist.“
„Ach, nur beim Reinhard und beim Klemens.“
„Die Cassetten ...?“
„Sind meine. Die warn noch bei denen.“
Der Mann holt was aus dem Kühlschrank.
Timo liegt mit dem Oberkörper auf dem Küchentisch.
„Hui! Hui!“
„Mach Platz für deinen Teller!“
„Wenn ich was eingepfiffen hab, krieg ich Affenhunger.“
„Ich glaub, wir waren uns einig, dass Drogen dir nicht wirklich gut tun.“
„Ja. Du, der Klemens hat astreines Material. Das glaubst du nicht, was der für Zeug kriegt!“
„Und wo hat er’s her? Stimmt’s, dass er’s im Garten zieht?“
„Weiß nicht. Frag ihn doch.“
Der Junge isst. Er isst wenig, einen Bissen, noch mal einen. Den Rest lässt er stehen.
Zwei Cocktail-Tomaten sind auf dem Teller. Er spielt mit ihnen.
„Guck! Wie so Mäusle! Duck, duck, duck!“
Die eine Tomate küsst die andere.
Timo lässt eine unter dem Teller verschwinden.
„Na, wo issi hin? Find’st sie nicht? Siehst sie nicht? Duck, duck, duck! Wo isses Scheißerle hi? Duck! Duck! Duck! U-huu!“
Er lacht das Lachen.
„Un, heim, lich lustig. Super-intelligent!“
Er lacht wieder.
Die eine Tomate rennt über den Tisch, sie springt ab zum Fußboden.
„Hui!“, jault der Junge.
„Nicht so laut, verdammte Scheiße! Heb das auf!“
„Wo bisch nur hi, Schatzel, wo bisch du nur hi? Komm zum Timo! Duck, duck, duck!“
Er lässt sich vom Stuhl sacken und kriecht unter dem Tisch.
„Scheiße!“
Die Tomate hat er zerquetscht, Reste kleben am Knie.
„Das musst du waschen.“
„Ich muss nix.“
„Aber mit so einer Hose krieg ich kein Zimmer.“
„Morgen wasch ich sie dir. Wird nämlich Zeit.“
Timo rollt den Kopf auf den Schultern.
„Bah! Ist des geil! Derbe affengeil. Davon tut mir der Kopf dann nicht weh!“
„Raucht Reinhard mit bei so was?“
„Logo.“
„Und sonst, was war bei denen?“
„Videos. Die gucken schwules Dreckszeug. Shit und Alkohol, das dreht mich so geil.“
„Dreckszeug? Pornos?“
„Klar, aber so, du weißt doch, wie heißt das, Mado-Saso?“
„Sado-Maso. Schlagen und Fesseln und so Sachen?“
„Die haben einen, wo sie einem ins Maul scheißen, von oben rab. Wirklich echte Scheiße. Du siehst sie rauskommen.“
Der Junge lacht sein Lachen.
„Hast du je was gemacht mit denen?“
„Die sind doch zusammen. Das sind Bekannte von mir. Aber du, weißt du, wie ich zu dir gekommen bin, hat mir der Zahn so wehgetan. Da bin ich beim Reinhard und Klemens gewesen. Da hab ich von denen Tabletten gekriegt. War Dreckszeug, hat nicht gewirkt. Und wir gucken einen Film. Reinhard und Klemens wissen nicht, dass ich vorher die Tabletten genommen hab. Wir rauchen und trinken. Mit einem Mal klapp ich um und lieg strack auf ihrem Teppich. Viel hat nicht gefehlt.“
„Du machst Sachen.“
Der Mann krault ihm die schöne Brust.
„Gell, wenn ich was geraucht hab, bin ich lustiger?“
„Weiß nicht. Lustig würd ich das nicht nennen. Du bist verrückter wie normal.“
„Und rallig werd bei so einem Piece. Was geraucht und ich brauch ‘ne Schnalle zum Ficken.“
„Falls ich’s nie erwähnt hab: Ich möcht nicht gefickt werden.“
„Ich schwätz ja von einer Frau. Im Frühjahr werd ich sowieso immer rallig.“
„Hat man dieses Jahr nicht gemerkt.“
Timo gähnt.
„Jetzt werd ich müd. Ab in mei Heia. Ja Schatzel, gehmer in die Heia. Ja, ja Schatzel, ja-ah.“
„Magst ‘en Bacardi-Hütle?“
„Ich hab gnug. Gehmer in unser Bett.“
Der Junge zieht sich bis auf die Unterhose aus. Der Mann räumt die Küche auf. Er schlüpft aus Hemd und Hose, legt sich nackt neben den Jungen.
„Die Zähn’ hast du nicht geputzt.“
„Jetzt lieg ich schon. Jetzt steh ich nicht mehr auf.“
Der Mann kuschelt sich an ihn. Er küsst seinen Unterkiefer.
Der Junge liegt starr.
„Gut Nacht, Peter, schlaf gut!“
Am nächsten Tag laufen seine Cassetten. Wie erwartet: abscheuliche Musik. Aber noch schlimmer ist die Wiederholung. Der Mann macht die Balkontüre zu, obwohl es draußen warm und drinnen arg verqualmt ist.
Er kramt nach dem großen Kopfhörer. Der Kopfhörer ist seit langem ein wenig kaputt. Die eine Muschel ist ab, mit Kunststoffkleber und Heftpflaster lumpig befestigt. Ausgestattet mit dem Kopfhörer dreht Timo die Musik noch mal lauter. Sodass der Mann sie weiter einwandfrei mithören kann. Den Hörer auf liegt ein bis auf die Unterhose ausgezogener Junge eingesunken im Wippsessel von ikea, seine Augen geschlossen.
Lange schaut der Mann ihn an.
Das widerliche umgedrehte Kreuz auf der Brust. Die kleineren Verunstaltungen an den Armen.
„Hat ein Adler wern solln.“
Ganz hässliche Narben am Unterarm. Er hat erzählt, manchmal hat er Kippen ausgedrückt. Oder sich geschnitten und auf Blut gewartet. Warum, fragte der Mann. Er weiß es nicht.
„Manchmal muss man so Sachen machen.“
Der Mann hat seine Narben gestreichelt.
Schlank und zäh ist er, nicht mager. Muskulös die Brust, die Haut glatt und bleich. Er verkriecht sich ständig. Haare hat er kaum am Leib. Um die Brustwarzen einzelne schwarze. Unterhalb vom Nabel der schmale Streifen.
Außergewöhnlich schön ist er nicht. Die Beine sind zu kurz, also wirkt der Körper doch gedrungen. Und immer der feindliche Blick im Gesicht.
Legt er den Kopf, wie jetzt, nach hinten, wird sein Hals dick und der Adamsapfel ist viel zu groß. Aus diesem Winkel ist sein Kinn zu lang und zu spitz, das recht hübsche Gesicht wirkt mit einem Mal ungut. Bart wächst ihm kaum, aber, da er sich nicht rasiert, hat er doch Gewölle im Gesicht. Der Mann mag es ja, wenn sie diese Zwischenstufen zwischen Kinderhaut und Männerbart haben.
Er holt den Fotoapparat. Besser kein Blitz! Er kniet sich vor ihn auf den Boden und visiert ihn an von unten. Es wird Unterbelichtung angezeigt, als Dia wird es gehen.
Irgendwann macht Timo die Augen auf und er plärrt.
„Was machst du? Mich fotografiert man nicht. Das darf keiner bei mir.“
Der Mann lächelt.
Der Junge geht pissen. Der Kopfhörer plärrt. Der Mann visiert die Badezimmertür an. Er kommt raus, hält sich gleich einen angewinkelten Arm vors Gesicht wie ein Verurteilter.
Und dann steht er mit einem Mal genau im Licht und sieht zum Niederknien aus.
„Zehn Fotos hab ich doch schon gemacht. Da geht im Stehen noch eins. Ich will was von dir haben, wenn du weg bist.“
Und er lächelt sogar. Stellt sich dann in die doofe Machopose.
„So ein schöner Mann muss nicht so verzwungen tun.“
„Scheißdreck!“
Und doch flirtet er jetzt mit der Kamera und er will hübsch sein auf dem Foto.
„Hör auf! Ich krieg sonst meinen Koller.“
Bis der Film voll ist, ein- und zurückgeschickt, geschnitten und gerahmt, ist der Junge nicht mehr da. Kein einziges von den Bildern taugt irgendwas. Überall nur graugrüne Sauce, darin liegt ein bleiches Stück Körper, ein dunkler Wuschel. Aber das Kreuz kommt so hässlich rüber, wie es gewesen ist.