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seit gut zwei Jahren im Oberkiefer eine Prothese. Ja, das sah natürlich wesentlich besser aus, als ihr „Esszimmer“. Tauschen würde sie trotzdem nicht wollen.
Gabriele wandte sich von ihrem Spiegelbild ab, kramte das Päckchen Tabak aus der Handtasche und setzte sich in an den Küchentisch, um sich eine Zigarette zu stopfen. Das notwendige „Bastelmaterial“ befand sich in der Schublade unter der Platte. Genüsslich rauchend stopfte sie gleich einen Vorrat.
Sie dachte wieder an Günthers Worte. Die Aussicht auf die bevorstehenden Mühen, die ein „Aufbrezeln“ mit sich bringen würde, ließen sie den nur im Ansatz gedachten Entschluss sofort wieder verwerfen. „Mann, bin doch keine zwanzig mehr. Muss ich mich nach fast dreißig Jahren Ehe noch in Schale schmeißen? Für Günther? Wozu? Da läuft doch eh nix mehr.“
Ja, bei Günther lag die Sache anders – er trieb sich jeden Tag draußen herum und wollte nicht „asi-mäßig“ aussehen, auch oder gerade weil er Pfandflaschen sammelte. Er sah noch ganz passabel aus mit seinen achtundfünfzig Jahren. Kräftige Statur, aber nicht dick. Kurzer, weißer Stoppelhaarschnitt, den sie immer gut bei ihm hinkriegte mit dem elektrischen Kurzhaarschneider, und stets in gebügeltem Hemd, Jeans und Sportschuhen unterwegs. „Sneaker“ seien das, betonte er immer. Wenn es kälter war, trug er eine moderne Art von Parka drüber – ein Stück, das Stefan sich bestellt hatte und, da es zu groß ausgefallen war, seinem Vater schenkte. Die Hemden bügelte Günther selbst, denn Gabriele war der Meinung, dass er ja auch bügelfreie Klamotten wie Poloshirts tragen könnte.
Lustlos stemmte sie sich langsam vom Stuhl hoch, wusch ab, räumte das Nötigste auf, vergaß auch das Katzenklo nicht – der Geruch machte ein Vergessen unmöglich – und nahm die Wäsche ab, die auf dem winzigen Balkon bei der Hitze längst getrocknet war. Sie legte sie sogar ordentlich zusammen und gleich in den Schrank, worauf sie sich zur Belohnung ein Glas Wein gönnte. Aus der Tasse trank sie den nur, wenn sie tagsüber nicht allein war – und abends konnte ihr keiner einen Vorwurf machen, wenn sie nach dem Essen ein Gläschen trank …
Günther lief seine Nachmittagsrunde. Vormittags nahm er einen anderen Weg. Ein unausgesprochenes Gesetz unter Flaschensammlern, die sich mit der Zeit untereinander kannten, verbot es, im fremden Revier auf die Suche zu gehen. Erstaunlicherweise hielten sich die meisten daran.
„Günther!“ Willi, der derselben Arbeit nachging, rief seinen Freund und winkte ihm von der gegenüberliegenden Straßenseite zu. „Käffchen?“
Günther stopfte noch schnell zwei Fundstücke in die Plastiktüte, drehte sich zu Willi um und nickte.
„Aber hallo! Klar doch!“
Beide gönnten sich täglich einen unverschämten Luxus: Sie trafen sich gegen fünfzehn Uhr bei „Uschis Linde“, einem Kiosk. Dort setzten sie sich an einen der beiden Bistrotische, die unter der Linde standen und tranken einen Becher Kaffee – ein Euro! Das waren vier geopferte Pfandflaschen, mit denen sie manchmal tatsächlich bezahlten. Uschi hatte ein großes Herz – vor allem Günther gegenüber …
Als Willi sich bereits wieder verabschiedete, blieb Günther noch sitzen. Er wartete ab, bis sein Freund außer Sichtweite war und trat an den Verkaufstresen.
„Gib mal bitte einen Lottoschein, Uschi, ja?“
Ihre Finger berührten sich, als er ihn aus ihrer Hand entgegennahm.
Wenn auch Gabriele und Willi glaubten, er hätte kein Laster, da er weder rauchte noch trank, so irrten sie. Aber das war Günthers Geheimnis, von dem allein Uschi wusste. Montags kreuzte er zwei Felder an – immer die gleichen Zahlen. Uschi legte ihm den Lottoschein und einen Kugelschreiber hin, sowie ein Stück Pappe als Schreibunterlage. Das tat sie immer. Für Günther war es ein geradezu feierlicher Akt, die Kreuzchen zu setzen. Uschi sah ihm schmunzelnd dabei zu, wie er bedächtig die beiden Felder ausfüllte.
Als er eben fertig war, stellte sich eine stark geschminkte, blondierte Mitvierzigerin neben ihn und gab einen ausgefüllten Schein ab. Angewidert vom extremen Parfumduft verzog Günther sein Gesicht und trat einen großen Schritt beiseite.
„Hier, der ist von letzter Woche. Ich will nur wissen, ob ich etwas gewonnen habe, verglichen habe ich nicht.“
Uschi steckte den Schein in ein Gerät und schüttelte den Kopf.
„Leider nichts.“
Die Frau nahm das wertlose Stück Papier wieder an sich, blickte darauf und seufzte.
„Gut. Das war es dann. Dreißig Jahre sind genug.“ Sie schaute Uschi mit wehmütigem Lächeln an, zerknüllte den Lottoschein und warf ihn in den Papierkorb, neben dem Günther stand.
„Diese Zahlen haben mir kein Glück gebracht.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging. Uschi hielt Günther die Hand hin, um seinen ausgefüllten Schein in Empfang zu nehmen, aber er zögerte. Seine Gedanken überschlugen sich! „Was, wenn … ? Und wenn nicht, was dann? Und wenn … Ob ich beide …?“ Er schüttelte energisch den Kopf, griff in den Papierkorb, holte den zerknüllten Schein heraus und sagte bestimmt:
„Neuen Schein, Uschi.“
„Wozu? Schreib doch ihre Zahlen mit auf deinen.“
„Nein, zu teuer. Ich nehme ihre.“
„Na, hoffentlich weißt du, was du tust.“
„Keine Ahnung, Uschi. Ist nur so ein seltsames, starkes Gefühl.“
„Ach Günther, du Träumer, du lieber.“ Und sie lächelten einander an.
Dieses Mal zitterte Günthers Hand vor Nervosität, als er von dem glatt gestrichenen Lottoschein die Zahlen akribisch abschrieb.
„Hier.“ Seine Hand flog, als sie den neuen Schein entgegennahm.
„Alles Glück der Welt wünsche ich dir.“
Die Tage blieben heiß und blieben eintönig und Günther hörte sich geduldig Gabrieles Vorwürfe an, händigte ihr sein Pfandgeld aus, bügelte seine Hemden, besuchte Stefan, schenkte seinem Enkel ein Feuerwehrauto, das er günstig im Sozialkaufhaus erstanden hatte und wartete ungeduldig auf den Samstagabend.
Am Mittwoch der folgenden Woche kam er abends nicht mehr nachhause. Gabriele bemerkte den Umschlag auf der Anrichte im Flur erst gegen neunzehn Uhr. Sie erkannte Günthers Handschrift und musste sich setzen, als sie seine Zeilen las. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Er ist weg! Einfach weg! Und ich habe zweihundertfünfzigtausend Euro auf meinem Konto!“
Sie hielt sich beklommen die Hand vor den Mund, stand dann auf, überlegte kurz und ließ dann einen Jubelruf durch die Zwei-Zimmer-Wohnung gellen, von dem sogar die Nachbarn in der zwei Stockwerke höher gelegenen Wohnung etwas hatten! Sie eilte in die Küche, stellte das alte Radio laut und tanzte gleich darauf beschwingt mit Weinflasche in der Hand um die Wohnzimmergarnitur.
„Jetzt kann ich mir alles leisten! Oh Günther, du bist ein wahrer Schatz!“ Sie hatte ihm augenblicklich alles verziehen und wusste, dass sie ihn nicht vermissen würde. Jeder Gedanke an Sparsamkeit war verflogen und sie setzte die Flasche an den Mund und trank sie in großen Zügen leer. Dann kramte sie den Notgroschen aus einer alten Teedose hervor – den heiligen Zwanzig-Euro-Schein! Sie griff nach ihrer Tasche, schmiss die Wohnungstür hinter sich zu, stolperte ungeschickt die Flurtreppe herunter und besorgte sich vier Flaschen Wein und eine Schachtel Zigaretten! Diesen Abend wollte sie gebührend feiern!
Fremde Geräusche und ein Klopfen ließen sie erwachen. Mit Mühe öffnete sie die Augen und erschrak heftig. „Wo bin ich?!“ Sie erkannte sogleich, dass sie in einem Krankenbett lag – Einzelzimmer! Die Tür öffnete sich vorsichtig und Stefan steckte den Kopf zur Tür herein.
„Dürfen wir?“, fragte er und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Ihm folgten der kleine Steven, Yvonne und …
„Bettina!?“ Gabriele konnte es kaum fassen. „Ihr Lieben! Ich weiß gar nicht, warum …“
Schon standen sie um ihr Bett versammelt und blickten mit ernsten Mienen auf sie herab. Nur Enkel Steven ließ ein Feuerwehrauto mit Gebrumm über ihre Bettdecke fahren.
„Mutti, du siehst furchtbar aus“, sagte Bettina. „Du warst gestern Morgen sturzbetrunken, im wahrsten Sinne des Wortes, und deine Nachbarn, die Neumeiers, haben dich im Hausflur am unteren Treppenabsatz liegend gefunden – neben dir eine Mülltüte voller leerer Weinflaschen. Wir durften dich erst heute besuchen kommen.“
Gabriele spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht schoss.
„Ja, Mama“, übernahm Stefan, „du hast dir beim Sturz das linke Handgelenk und zwei Rippen gebrochen und du hast eine große, genähte Platzwunde an der Stirn. Und Blutergüsse. Du hättest tot sein können. Schlimm.“
„Oh, mein Gott! Ich verspreche euch, ich höre damit auf. Wirklich.“
„Das wäre wunderbar, Mutti, denn wir brauchen dich doch noch.“
Das aus Bettinas Mund zu hören, war Balsam für Gabrieles Seele – obwohl ihr die Zweifel, die in ihrer Stimme mitschwangen, nicht entgangen waren.
„Wisst ihr, euer Vater ist weg.“
Alle nickten.
„Stefan, du bekommst deine sechzig Euro wieder, sobald ich hier raus bin.“
Ihr Sohn lachte.
„Ne, Mama. Die hat Papa mir schon wiedergegeben, und dann hat er mir noch Zinsen drauf gezahlt – unverhältnismäßig hohe, sozusagen.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Mir hat er auch Geld überwiesen und das nicht zu knapp“, ergänzte Bettina fröhlich.
Gabriele staunte nicht schlecht über diese Neuigkeiten.
„Wenn ich nur wüsste, wo er jetzt steckt. Ich würde mich so gerne bei ihm bedanken, trotz allem.“
„Das wissen wir nicht, Mutti.“ Bettina sah ihre Mutter mit großen Augen an.
Stefan räusperte sich.
„Also, WO er ist, weiß ich auch nicht, aber als ich mir vorhin bei Uschi noch Zigaretten kaufen wollte, war „Uschis Linde“ geschlossen. Im Fenster hing ein Schild mit der Aufschrift: Zu verkaufen. Darunter Name und Telefonnummer ihrer Tochter …“
Gabriele schüttelte den Kopf, trotz eben aufkommender Schmerzen, und sagte leise:
„Na, dann stehen Pfandflaschensammler wohl doch hoch im Kurs.“
Sie seufzte, lächelte in die fragenden Gesichter und blieb ihnen die Antwort schuldig.
Kommentare
(F)Ein Märchen zwar, dazu modern:
Doch höchst real – mit wahrem Kern!
LG Axel
Danke Axel, das ist nett!
LG
Corinna
Geile Geschichte Cori,
ich war total gefesselt...
LG Micha
Uuiiih! Daschaman dolles Lob! ;)
Dankeschön, Micha!
LG,
Corinna
Super geschrieben liebe Corinna, gefällt mir sehr gut!
LG! Sigrid
Oh toll, das freut mich wirklich sehr! Danke, Sigrid!
LG,
Corinna
Wunderbar geschrieben, eine tolle Geschichte,liebe Corinna!
L.G. Angélique
Herzlichen Dank, liebe Angélique! Ich freue mich, dass sie dir gefällt :) .
LG Corinna
Klasse! Eine Gesellschaftsstudie vom Feinsten. Lebendig vor Augen geführt, Bilder erzeugt, die anrühren und aufregen. So sieht das Leben vermeintlicher 'Looser' aus. Jedoch gibt's ein überraschendes glückliches Ende. Lesen lohnt sich.
LG Monika
Vielen Dank für deinen ausführlichen, so positiven Kommentar, liebe Monika!
LG
Corinna
Eine wunderbare Geschichte, sehr schön. LG Magnus
Lieber Magnus, ich freue mich, dass sie dir gefällt.
Vielen Dank!
LG
Corinna
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