Die Frau des Pfandflaschensammlers - Page 2

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– waren sie innerhalb kürzester Zeit hinabgestiegen – hinabgestiegen in das Reich der „Schwachmaten“, der „Looser“, der „Asozialen“. Damit konnte sie sich nicht abfinden. Aber es half ja nix. Sie trank mehr – gegen den Frust, obwohl sie sich immer einredete, dass sie nur aus Genuss trank. Mehr als früher, mehr, als sie damals gemeinsam gemütlich vorm Fernseher getrunken hatten. Es milderte alles, irgendwie. Und sie rauchte mehr. Mindestens zwanzig Fluppen pro Tag. Gestopfte – logisch, was sonst?

Und Günther? Ach, Je! Dieser gutmütige Träumer. Der gab nicht auf, er kämpfte! Er stand jeden Tag – Wochentag – um sieben Uhr auf. Dann machte er sich im Bad ordentlich zurecht, kochte Kaffee, den er in die schwarze Thermoskanne goss, damit sie später auch noch heißen Kaffee hatte, frühstückte eine Kleinigkeit und ging los – zur „Arbeit“! Das hieß, er suchte Pfandflaschen in den Mülleimern der Stadt, an den Straßenrändern, im Park oder er fragte höflich, ob er sie haben durfte, zum Beispiel auf Baustellen … Ihr Mann kannte keine Würde – so empfand sie es! Aber inzwischen war es ihr egal. Ihm wohl auch. Oder sah er es anders? Günther war in ihren Augen der Looser schlechthin. Ein Versager. Er war schuld, dass sie arm waren. ARM!

„Scheiße hoch drei, Günther! Wir müssen jeden Cent zweimal umdrehen und können kein verdammtes Matchboxauto kaufen!“
Entgeistert starrte er sie an. „Sag mal, spinnst du jetzt völlig, Gabi? Ich gehe nachher ins Sozialkaufhaus und suche ihm etwas Schönes aus.“
Günther bemerkte das kleine Zucken um ihren Mund.
„Was ist?“
„Wir können nicht zu Stefan, weil …“ Gabriele atmete tief durch und fuhr leise fort: „… wir ihm Geld schulden und ich ihm versprochen hatte, es ihm beim nächsten Besuch zurückzuzahlen.“ Jetzt war es raus.
„Wir? … WIR schulden ihm Geld?! Davon höre ich zum ersten Mal! Wie viel hast du dir geliehen?“
„Sechzig.“
„Wann?“
„Vor sechs Wochen.“
Günther stand auf und begann in der kleinen, schlauchförmigen Küche auf und ab zu gehen.
„Wofür?“
„Für alles eben … irgendwie.“
„Hat unser Geld nicht mehr gereicht für deinen Alkohol- und Tabakkonsum, oder was?! Warum hast du das heimlich hinter meinem Rücken gemacht?!“
Gabriele lachte verächtlich.
„Das Geld reicht doch sowieso nie! Was können wir uns denn noch leisten? Nix!“
„Das muss ich mir nicht anhören. Du tust selber keinen Handschlag dafür, dass es uns besser geht und bettelst noch unseren Sohn an! Ich tu wenigstens etwas!“
„Ach ja? Wer gibt mir denn noch Arbeit?! Hä?!“
„Keiner. Mir ja auch nicht. Aber du könntest auch Flaschen sammeln gehen, so wie ich.“
„Fang nicht wieder damit an! Lieber verhungere ich, als dass ich das tu.“
„Jaaa! Die Dame ist sich immer noch zu fein dafür, aber das Geld, das ich mitbringe, nimmt sie gern.“
Gabriele stand abrupt auf, so dass der Stuhl dabei fast umkippte, und ging beleidigt ins Wohnzimmer. Günther schnaubte.
„Dann halte wenigstens deine Klappe und mach mir keine Vorwürfe, wenn du selbst zu faul bist, deinen Hintern hoch zu kriegen!“
„Ach, lass mich doch in Ruhe“, sagte sie leise und ließ sich resigniert aufs Sofa sinken. Sie hörte, wie er das Geschirr geräuschvoll klappernd abräumte und ins Wohnzimmer kam.
„Kann ich Geld für Tabak haben?“, fragte sie kleinlaut. Unverständliches murmelnd legte er ihr Münzen auf den Tisch.
„Danke.“
„Warum warst du heute nicht bei der Tafel?“
„Ich wäre erste Reihe gewesen … hab ich verschlafen, sorry.“
Günther seufzte und schüttelte missbilligend den Kopf.
„Ich habe mir überlegt, dass ich alleine zu Stefan fahren werde und ihm erkläre, dass wir die sechzig Euro erst Anfang nächsten Monats zurückzahlen können.“
„Von mir aus.“ Gabriele fragte sich, wovon er das Geld abknapsen wollte, zumal auf einen Schlag, sagte aber nichts dazu. Sollte er doch zusehen, wie er das anstellte.

Günther war vor sie getreten und blickte sie schweigend an. Sie sah zu ihm auf – er wirkte nachdenklich.
„Was?“
„Ach, nichts.“
„Wieso guckst du dann so?“
Er zögerte.
„Weißt du eigentlich, dass du ganz schön fertig aussiehst, Gabi?“
„Wundert dich das? Bei so einem Le…“
„Das meine ich nicht“, unterbrach er sie. „Du lässt dich gehen und das macht mir Sorgen.“
„Pfff.“ Sie zuckte mit den Achseln.
„Willi sagt das auch. Der hat dich vor Kurzem gesehen und meinte, du siehst ganz schön heruntergekommen aus.“
„Sach ma, spinnt der?! Was fällt dem denn ein?!“ Sie wusste, dass er recht hatte, aber das zu sagen, war ja wohl eine Frechheit!
„Kannst du nicht auch mal was anderes anziehen als immer diese verwaschenen Leggings und Schlabbershirts? Du bist doch schlank, kannst alles tragen. Und dann … dann diese Gesundheitslatschen dazu.“
„Hallo?! Erstens sind das Jeggings und keine Leggings und zweitens ist das bequem. Soll ich vielleicht Pumps anziehen, wenn ich nur mal eben zum Supermarkt runtergehe oder den Müll rausbringe?“
„Ist doch egal, wie die Dinger heißen, aber – ja. Das heißt nein. Zum Müll rausbringen natürlich nicht, aber sonst. Also überhaupt und so. Willi ist es, wie gesagt, auch schon aufgefallen.“
„Willi! Klar! Dein bester Freund! Toller Freund! Der ist doch hinter jedem Rock her, da kann ich ja froh sein, dass er mir vom Leibe bleibt. Oder muss ich mich jetzt für dich auch noch aufdonnern, damit dich mir keine wegnimmt? Stehen Pfandflaschensammler gerade hoch im Kurs, oder was?“
„Schon gut. Vergiss es. Ich geh wieder arbeiten. Bin um sechs zuhaus. Ähm … mach mal das Katzenklo sauber, es riecht schon sehr.“

Als Günther gegangen war, beeilte sich Gabriele zum Supermarkt zu kommen. Sie hatte seit über einer Stunde keine mehr geraucht und brauchte jetzt dringend neuen Tabak.
Wieder im heimischen Flur angekommen, blieb ihr Blick beim Abstellen der Handtasche an ihrem Spiegelbild hängen. Sie trat näher heran und begutachtete ihr Äußeres. Wie recht Günther doch hatte! Jetzt, beim genaueren Hinsehen, erkannte sie ihre fahle Gesichtsfarbe. Tiefe Zornesfalten, Augenringe und die schmalen Lippen mit hängenden Mundwinkeln ließen sie verhärmt aussehen. Sie versuchte ein Lächeln. Ein breites Grinsen. Ein Lachen. Sie erschrak. „Scheiße, ich muss zum Zahnarzt!“ Die oberen Schneidezähne zeigten bereits kariöse Stellen, wo sie sich berührten! Sie riss den Mund weit auf und drehte den Kopf in alle Richtungen, um das ganze Ausmaß unregelmäßiger Zahnpflege in Augenschein zu nehmen. Kaffee, Rotwein und Tabak hatten deutliche Spuren hinterlassen. „Immerhin sind es noch meine eigenen“, beruhigte sie sich. Günther trug

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Kommentare

16. Okt 2016

(F)Ein Märchen zwar, dazu modern:
Doch höchst real – mit wahrem Kern!

LG Axel

16. Okt 2016

Geile Geschichte Cori,

ich war total gefesselt...

LG Micha

16. Okt 2016

Uuiiih! Daschaman dolles Lob! ;)
Dankeschön, Micha!
LG,
Corinna

16. Okt 2016

Super geschrieben liebe Corinna, gefällt mir sehr gut!
LG! Sigrid

16. Okt 2016

Oh toll, das freut mich wirklich sehr! Danke, Sigrid!

LG,
Corinna

16. Okt 2016

Wunderbar geschrieben, eine tolle Geschichte,liebe Corinna!
L.G. Angélique

17. Okt 2016

Herzlichen Dank, liebe Angélique! Ich freue mich, dass sie dir gefällt :) .

LG Corinna

17. Okt 2016

Klasse! Eine Gesellschaftsstudie vom Feinsten. Lebendig vor Augen geführt, Bilder erzeugt, die anrühren und aufregen. So sieht das Leben vermeintlicher 'Looser' aus. Jedoch gibt's ein überraschendes glückliches Ende. Lesen lohnt sich.
LG Monika

17. Okt 2016

Vielen Dank für deinen ausführlichen, so positiven Kommentar, liebe Monika!
LG
Corinna

18. Okt 2016

Eine wunderbare Geschichte, sehr schön. LG Magnus

18. Okt 2016

Lieber Magnus, ich freue mich, dass sie dir gefällt.
Vielen Dank!
LG
Corinna

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