Bevor das Leben dich zeichnet

Bild zeigt Michael Dahm
von Michael Dahm

Etwa eine Woche vor dem Heiligen Abend war er plötzlich da, ganz selbstverständlich, als wäre ihm alles in Fleisch und Blut übergegangen, klappte er seinen Angelstuhl auseinander, holte eine alte aufgeschnittene Bierbüchse aus dem speckigen Rucksack, danach ein mit ungelenker Handschrift beschriebenes Pappschild, auf dem geschrieben stand >Nicht für mich, nur für den Hund, eine kleine Spende<. Nachdem er sorgsam alles vor sich drapiert hatte, kauerte er sich auf seinen Stuhl ganz dicht vor dem Eingang des Supermarktes, so dass ihn der warme Luftstrom aus dem Inneren desselben nicht verfehlen konnte.
Bekleidet war er recht abenteuerlich mit einem uralten Wildledermantel nach Cowboyart, einem noch älteren russischem Chapka, bei dem man die Originalfärbung nicht einmal mehr erahnen konnte. Er hatte weiterhin dicke Filzstiefel an, die hinten mit großen Klammern zusammengetackert waren. Womöglich hatte er die Entfernung Erde- Mond schon zwei Mal damit zurückgelegt. In ihnen steckte eine derbe Jeanslatzhose, eine von der Art, die alles mitmacht, wenn man sie fordert.
Seinen kleinen Chihuahua ließ er frei vor sich laufen, um die geschäftigen Kunden aufmerksam zu machen. Dieser winzige Kerl erledigte seinen Job wirklich gut. Er setzte sich auf den zierlichen Hundepopo, hob die Vorderpfoten in die Höhe und bettelte zum Herzerweichen. Er konnte auf den Hinterbeinen laufen und dabei das Schild zwischen den Zähnen tragen.
Der alte Mann beobachtete sein Treiben und lächelte. Ich hatte ihn schon drei Tage im Vorbeifahren gesehen, und da meine Haushälterin mich gebeten hatte, für das Abendessen eine Flasche Weinbrand zum Flambieren des Steaks zu besorgen, ließ ich meinen Chauffeur hier einfach mal halten.
Normalerweise lasse ich mich nicht herab, um in solchen Märkten einzuholen. Der Rolls-Royce wirkte auf dem Parkplatz wie ein Schwan in einer Entenfamilie. Nachdem ich ausgestiegen war, zückte der alte Mann ein Büchlein, sah mich scharf an und fing an zu zeichnen.
Ich ging an ihm vorbei und mir wurden meine Privilegien mehr als bewusst. Nie in meinem Leben brauche ich arbeiten. Meine riesige Villa befindet sich im Hamburger Speckgürtel auf einem streng gesicherten Grundstück. Das Areal umfasst dreißigtausend Quadratmeter und wird von vielen Angestellten bewirtschaftet, die mir mein Leben so angenehm wie möglich machen. Ich bin Alleinerbe und letzter Sproß einer großen Kaffeedynastie. Da ich nie wirklich Lust zum Arbeiten verspürte, habe ich alles verkauft und lasse das Geld für mich arbeiten und ich muß sagen, es ist wirklich fleißig. Ich lebe allein, denn es ist der Fluch der Milliardäre, keiner Frau vertrauen zu können. Wenn ich Lust auf Gesellschaft verspüre, lasse ich mir eine der vielen willfährigen Damen kommen, natürlich nur aus den besten Etablissements. Trotz meines mehr als luxuriösen Lebenswandels werde ich den Eindruck nicht los, dass mir etwas fehlt. Es muß etwas sein, das man für Geld nicht bekommt. Ich habe die besten Schneider, die die besten Stoffe für mich verarbeiten, trage die teuersten Schuhe … handgefertigt natürlich, und ich fühle mich great, bis auf diese eine Sache.
Als ich aus dem Discounter kam, wartete der Alte schon auf mich und drückte mir seine Zeichnung in die Hand. Ich wollte sie gerade in die Manteltasche stecken, als mein Blick doch auf sie fiel.
Das Bild zeigte mich, es waren meine Züge, meine Sachen, die ich trug, doch ging ich tief gebeugt, meine Nase schleifte fast auf dem Boden und ein riesiger Geldsack auf dem Rücken drückte mich nieder. Bittend hielt ich meine Hände der Sonne entgegen, und ein Hund lief hinter mir her.
>Was soll das< , sprach ich. >Das ist doch nur eine Karikatur, das bin doch nicht ich, was hast du da gemacht?< >Jungchen<, erwiderte er, >Ich bin jetzt achtzig Jahre alt und ich zeichne das Leben, wie es dich gezeichnet hat, mich jedoch kann es nicht mehr zeichnen und hat es auch noch nie getan. Auf diesem Bild bist du, wie du wirklich bist, wenn du ganz tief in dich gehst, dann weißt du, dass dir trotz deines Geldes etwas fehlt. Du kannst mir jetzt etwas dafür geben oder nicht, denn ich bin kein Bettler.< Ich sah dem Alten ins Gesicht. Dort erkannte ich Stolz und Würde, Weisheit und unendliche Lebenserfahrung. Weiter erkannte ich schwielige, abgearbeitete Hände, die in ihrem Leben schon oft schmerzhafte Erfahrungen hatten machen müssen. Seine Augen jedoch waren die eines wissenden Freundes und es strahlte Güte aus ihnen.
Ich gab ihm einen Fünfer und einen Klaps auf die Schulter und ließ mich nach Haus chauffieren. Dort setzte ich mich auf meinen Diwan, faltete den Zettel auseinander und betrachtete ihn. Je mehr ich starrte, desto mehr identifizierte ich mich mit der Karikatur, und der gezeichnete Geldsack drückte tatsächlich auf meine Schultern.
Der Heilige Tag war gekommen, ich hatte keine Freunde und Verwandte und wollte ihn nicht wieder allein verbringen und so kam ich auf die Idee, den alten Mann zu mir einzuladen.
Tatsächlich willigte er ein und so kam es, dass ich heute einen ungewöhnlichen Gast in meiner Behausung hatte. Zwei, mit dem Hund.
Seltsamerweise war er nicht beeindruckt von all dem Prunk und Luxus, der für mich selbstverständlich war.
Wir tranken teuren Wein und Whisky, räkelten uns im Whirlpool und irgendwann fing er zu erzählen an.
>Weißt du, wie das Leben sein kann, außerhalb des goldenen Käfigs? Ich weiß es. Ich habe so viel gesehen und gemacht in meinem Leben und bin dadurch reich geworden, nicht an Geld, sondern an Erfahrung, Menschenkenntnis und schönen Erinnerungen.
Hast du schon einmal den Gesängen der Aborigines gelauscht, bist Du eingegangen in die Ewigkeit beim Betrachten des Sternenhimmels in Aruba?
Nie werde ich vergessen, wie es ist, wenn sich ein Fischernetz im Nordatlantik, gefüllt bis zum Rand, in meine Hand frisst, oder wie sich die Struktur eines dreihundertjährigen schottischen Whiskyfasses anfühlt.
Das ist wahrer Reichtum, Marvin, und nicht der schnöde Mammon. Lebe, bevor es zu spät ist, lebe, bevor das Leben dich zeichnet.<
Trotz meiner Bemühungen, ihn zum Bleiben zu bewegen, lehnte er dankend ab und verschwand mit seinem kleinen Freund in der späten Heiligen Nacht.
Am zweiten Weihnachtstag stand dann die Polizei mit dem Hund und dem Rucksack vor meiner Tür.
>Marvin Wolf? Es hat einen Verkehrsunfall gegeben, ein alter Mann ist ums Leben gekommen. In der Unfallklinik hat er, bevor er verstarb, Ihren Namen als Hinterbliebenen angegeben und Ihnen den Hund und das hier vermacht.<
Damit händigten sie mir die Habseligkeiten aus.
Da ich mich ihm verbunden fühlte, besorgte ich die Beerdigung und schenkte ihm einen Grabstein mit der Inschrift:
>Hier ruht ein reicher Mann,
den das Leben nicht zeichnen konnte.<
Dabei erfuhr ich dann, dass er einziger Erbe und Spross einer superreichen Bankerfamilie war. Er hatte alles verkauft, das Geld gespendet und angefangen zu leben.
Heute drückt mich der Geldsack nicht mehr, ich gehe kerzengerade und bitte die Sonne um nichts. Nur ein kleiner Hund läuft hinter mir her …

© Picolo

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