Ein leichter Wind blies die trippelnde alte Frau den Parkweg entlang. Sie hielt ein Kofferradio fest unter ihrem Arm geklemmt und schaute sich unsicher um, lief dann zögernd weiter, machte einige unbeholfene Tanzschritte und lächelte. Nun drehte sie die Musik voll auf und stellte das Radio unter einem Baum ab.
Morgens um Fünf regte sich keine Menschenseele dort unten im Park, der sich zwischen den grauen Häuserzeilen wie ein schmaler, grüner Fluss dahinzog. Die alte Frau schloss ihre Augen und wiegte sich im Rhythmus der Walzermusik. >Tanzen möcht‘ ich, singen möcht‘ ich…< grölte der Lautsprecher. Und weiter hinten im Park pfiff ein Vogel, erst zögernd, und nach einer Weile tönte es klar und voll. Die Vogelstimmen hüpften wie Tennisbälle durch den Park, vermischten sich mit den Klängen des Radios, mit dem zittrigen Gesang der alten Frau, so dass sich der Park mit mächtigem Klang füllte.
Die alte Frau hielt ihr Gesicht in den Wind. Wie der Wind Katzenpfötchen bekam und ihr über den Kopf kletterte, den Nacken hinunter, über den Rücken und wie er um ihre Beine strich mit einer Sanftheit, die nur Katzen besitzen, wie er sich urplötzlich verwandeln konnte, das mochte nur die alte Frau verstehen.
Sie stand still da und hatte die Zeit in ihren Händen. Unentwegt rutschte sie den Zeitstrang entlang und geriet weiter, immer weiter zurück und ihr Herz pochte wie wild. Wieder und wieder fühlte sie den sanften Katzenkörper.
>Friedo!< schrie sie mit schriller Stimme. Sie umtanzte den Baum und ihre Hände glitten über den Stamm, und oben im Geäst raschelte der Wind.
Das kleine Mädchen breitete die Arme aus und ihr Haar, das sich gelöst hatte, fiel über die Schultern. So rasch sie konnte streifte sie ihre Schuhe ab, riss sich die Strümpfe von den Beinen und bohrte die Zehen in den feuchten Moosboden.
Eine Ewigkeit ist ein kurzer Moment, und dieser wiederum kann sich in eine Ewigkeit verwandeln.
Und Friedo roch nach Wärme und hatte all das, was das kleine Mädchen brauchte.
Er hatte sich in Wind verwandelt, denn die alte Frau war eine Zauberin. Niemals mehr hatte Friedo so geschrien wie damals, als die Männer ihn mit einem Stein um den Hals in den Fluss warfen. Von da ab hatte er sich in Wind verwandelt, denn schon das kleine Mädchen vermochte zu zaubern. Ihr Schrei erweckte ihn zum Leben und wieder und wieder schrie sie, und Friedos Wärme tat ihr gut. Und auch von Mutter und Vater mochte sie sich das Schreien nicht verbieten lassen.
Warum sie Friedo nicht behalten durfte, das hatte sie nie erfahren. Und ob ihr Vater die Männer, als sie Friedo ertränkten, um diesen Gefallen gebeten hatte, weil sein Töchterchen Friedo von der Straße, so verlaust wie er war, mit in ihr Bett genommen hatte, auch das konnte das kleine Mädchen nicht erfahren.
So war Friedo für einen kurzen Moment durch ihr Leben gelaufen, anmutig und sanft zugleich, und doch war’s für eine Ewigkeit.
Später dann hatte sie nicht mehr geschrien, denn Friedo hörte sie auch dann, wenn ihr Gedanke Schrei wurde.
Die alte Frau hatte Friedo nie aufgegeben, nicht, als sie ihre Eltern zu Grabe trug, nicht, als sie ihren Mann im Krieg verlor und nicht, als sie ihre Wohnung verließ, nur mit einem Koffer und dem Notwendigsten, um den Platz im Altenheim einzunehmen.
Die alte Frau hielt ihr Gesicht in den Wind.
>He du, was machst du da?<
Ein kleiner Junge kroch hinter einem Gebüsch hervor und zerrte an einem Weidenkorb.
>Fühlst du den Wind?< flüsterte die alte Frau.
>Der Wind, der Wind>, lachte der Junge und tanzte um die alte Frau herum.
>Willst du wissen, was in dem Korb ist?< fragte er.
Die alte Frau starrte auf das rotweißkarierte Handtuch, das sich im Korb bewegte. Plötzlich kam der Kopf einer jungen Katze zum Vorschein, dann glitt ein geschmeidiger, schwarzer Körper aus dem Korb heraus. Die Schwanzspitze zuckte einige Male, und das Kätzchen machte einen Buckel, um zum Sprung auf einen Käfer anzusetzen, der sich schnell unter dem Moos verkroch.
>So ein niedliches Kätzchen<, sagte die alte Frau.
>Willst du wissen, wo ich’s her hab?< fragte der Junge.
>Wahrscheinlich von deiner Mam<.
>Hab ich nicht<.
>Woher denn?<
>Hab sie gefunden<.
>Wo?<
>In einer Mülltonne<.
>Das ist nicht wahr<.
>Wenn ich’s doch sage<.
Der Junge bückte sich und griff nach der Katze, die sich am Moos festkrallte. Als er sie zu sich heranzog, fielen ihm feuchte Moosstücke auf den Schoß.
>Sie lag mit zusammengebundenen Vorder- und Hinterbeinen unter dem Müll vergraben. Sie schrie entsetzlich<, erzählte der Junge. Seine Augen glänzten und waren plötzlich tiefschwarz. Er streichelte die Katze unentwegt.
>Friedo<, murmelte die alte Frau.
>Willst du auch mal<?
Der Junge hielt ihr die Katze hin, die sie vorsichtig in ihre beiden Hände nahm. Sie fühlte die Wärme und wie der Körper vibrierte, erst tief in der Brust, über den Bauch bis hin zum Schwanz, immer wieder nach jedem Atemzug.
>Hör mal, wie sie schnurrt<, sagte die alte Frau.
Der Junge legte seinen Kopf auf den Katzenkörper und schloss die Augen.
>Sie fühlt sich wohl bei dir<, sagte er. >Willst du sie haben<?
>Ich weiß nicht<.
Die alte Frau dachte an den Vertrag, den sie beim Einzug in dieses Haus, in dieses graue, schäbige Haus hat unterschreiben müssen: Haustiere sind nicht erlaubt!
>Bitte nimm sie<, flehte der Junge, >ich darf sie nicht behalten<.
Er legte seine Hand auf ihren Arm. Seine Hand war klein und fest. Die alte Frau hielt ihr Gesicht in den Wind, der sie zart umfing, mit ihren Haaren spielte und ihren Körper umschmeichelte.
>Ich muss mir das mit der Katze überlegen<, sagte sie.
>Nimm sie<, bat der Junge.
>Ich bin viel allein<, murmelte sie. >Warum soll ich sie nicht nehmen?<
Sie redete mit sich und lächelte.
>Warum soll ich sie nicht nehmen<?
Sie war eine Zauberin, und wer die Magie besitzt, beherrscht das Leben. Der Junge hatte seine Hand auf die Schulter der alten Frau gelegt. Das war für sie seit langer Zeit die erste Berührung dieser Art.
Sie sah ihn lange an, während sie sich geschickt die dünnen Haare zu einem Knoten drehte.
Die Katze war in ihren Korb gesprungen und hatte sich eingerollt. Die Frau zog ihre Schuhe an und steckte die zerrissenen Strümpfe in die Tasche ihres Rocks.
>Weißt du’s jetzt<? fragte der Junge.
Sie drehte die Musik aus und presste ihr Radio unter den Arm.
>Hm<.
>Ich komm dich auch besuchen<, meinte der Junge.
>Gib mir die Hand drauf<, sagte sie und schaute ihn unternehmungslustig an.
Er stand da und hielt ihr die Hand hin. Sie legte ihre welke, kleine Hand in diese pralle Knabenpranke und wollte sie nicht mehr loslassen. Sie stand einen kurzen Moment regungslos da. Nur der Wind brachte Bewegung in diesen frühen, unendlich jungen Morgen.
aus Bolero und Peitsche 1990
Kommentare
Auch dieser Text scheint Zauberei -
Der Leser ist direkt dabei...
LG Axel
Auch hier ist Mut angesagt.
Danke für den Kommentar.
LG Monika
...ein unendlich junger Morgen .
Dankeschön ! für diese wundervolle Geschichte .
Eva
Bin gerührt. Sende auch ein Dankeschön an Eva
LG Monika
Marie, wie Du mich erfreust.
Danke für Deine Aufmerksamkeit mit Klick.
LG Monika