Zu mir jedenfalls war er immer freundlich. Geschäftsmäßig erst, dann schwangen kaum merkliche Untertöne mit, die unsere Besprechungen in einem angenehm temperierten, fast privaten Ton verlaufen ließen, ohne je plump-vertraulich zu werden.
Ab und zu gingen seine höflichen Fragen nach dem Befinden und der Familie einen Schritt über das normal-übliche distanzierte Interesse hinaus. Leise Randbemerkungen, die nie peinlich wurden, wenn sie mich auch wegen ihrer Unvermitteltheit und Zusammenhanglosigkeit im ersten Moment oft erstaunt innehalten ließen. Auf anschließende ähnliche Fragen an ihn kam jedes Mal eine knappe, artige Antwort zurück, und schon waren wir wieder konzentriert beim Thema.
Manchmal verlor er sich ein wenig darin, von seinen Reisen nach Ancona oder Siena zu erzählen, aber eigentlich nur als Hintergrund für die Briefe, die er mich für ihn zu schreiben bat.
Bei aller tiefempfundenen Liebe zu diesem südlichen Land, seinen Menschen und ihrer Sprache, bei allem theoretischen Wissen über Grammatik und Satzbau, das meines gewiss weit übertraf, war es ihm nie gelungen, frei und fließend in Italienisch zu sprechen oder zu schreiben. Dennoch war er unermüdlich in seinem Bemühen; das Wort „Aufgeben“ existierte in seinem Wortschatz nicht. Für einen auch in seinem Alter noch aufgeschlossenen Mann war sein Interesse breitgefächert, es gab wenig, über das er nicht gerne immer noch mehr erfahren hätte.
Sein Arbeitszimmer hatte mich schon deshalb beeindruckt, weil eine Wand die offiziellen Gunstbezeugungen trug: Verleihungsurkunden hinter Glas, Ehrenwappen, gravierten Dank auf poliertem Metall, und all die Insignien, die die Öffentlichkeit einem verdienten Mitglied der Gesellschaft verleihen zu müssen glaubt. Sie dokumentierten seinen Status, es schien jedoch, als haben sie im Moment des Aufhängens sein Interesse nicht mehr verdient.
Ein erstaunlicher Mensch, aber eben genau das: Ein Mensch.
Ich habe öfter und rein zufällig erlebt, wie er Leuten konkrete Hilfe zuteil werden ließ, ohne Bezahlung zu erwarten, die folgende Dankbarkeit der Leute machte ihn eher verlegen. Auch mir hatte er in zwei Fällen mit seinem Fachwissen helfen können und dies sofort heruntergespielt.
Vielleicht, weil ich ihn eine Weile nicht mehr gesehen hatte, fiel mir zu Beginn unserer nächsten Besprechungsserie auf, dass er trank. Er sprach zwar – angeheitert – von guten Vertragsabschlüssen, aber der Geruch nach Alkohol "stand" im Raum.
Wenn er mir früher einen Kaffee oder Saft angeboten hatte, offerierte er mir jetzt Wein oder Bier. Und wenn ich dankend ablehnte, auch in der Hoffnung, ihn dadurch - wenigstens für die Dauer der Besprechung - vom Trinken abzuhalten, hinderte ihn das nicht, eher verstohlen („Sie gestatten? Ich habe heute Durst, darf ich Ihnen nicht doch etwas einschenken?“) an seinem Silberbecher zu nippen.
Zuerst registrierte ich es nur: Was hatte mich seine Lebensführung denn zu interessieren. Aber er wurde immer zerstreuter und kam häufiger vom Thema ab, verlor den Faden. Von Zeit zu Zeit verstummte er und sah über den Schreibtisch hinweg in meine Augen, bis ich als Erste wieder das Wort ergriff.
Er wurde im Laufe der Zeit so seltsam und die Situation mir langsam so unheimlich, dass ich mich nach einigem Überlegen doch traute, die unsichtbare Grenze zu überschreiten und persönlich zu werden. Ich sagte ihm in eines seiner wiederholten langen Schweigen hinein, dass ich sein Trinken der letzten Zeit bemerkt habe und denke, dass er das tue, weil er ein Problem habe, über das er mit niemandem sprechen könne. Wenn es an dem sei, dann habe er gefunden, was er nicht gesucht habe, ich würde ihm zuhören. Er wiegelte ab, aber ich traute diesem Frieden nicht recht. Nicht bei jeder, aber jeder passenden Gelegenheit wiederholte ich während unserer wöchentlichen Treffen ohne weitere Erläuterung meine uneingeschränkte Bereitschaft zum Gespräch. Er lehnte stets zögernd ab, ohne aber aufzuhören, mich dabei sehr eindringlich zu mustern.
Dieses „Spiel“ dauerte ca. zwei Monate, sein Alkoholkonsum wurde dabei immer offensichtlicher und erschreckte mich zunehmend.
Bis er bei einem Treffen unvermittelt, ohne konkreten Anlass, fast in einem Atemzug zu mir sagte: „Sie haben recht. Ich bin unheilbar krank und habe das einen Tag vor Weihnachten erfahren. Das war, als ich mit Ihnen auf den großen Vertragsabschluss anstoßen wollte. Den gab es natürlich nicht. Sind Sie jetzt schockiert?“
Nein, war ich nicht. Erschlagen war ich. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das sagte ich ihm auch, aber sicher hatte er es mir schon angesehen. Wir schwiegen beide eine Weile, und dann fragte ich ihn, so behutsam ich konnte, aus.
Ich sei die erste Person, die davon erfahre. Seine Familie habe er damit nicht belasten können. An diesem Abend redeten wir über nichts anderes mehr, und er öffnete sich so weit, wie das einem verschlossenen Menschen nur möglich ist. Er bat mich, mit ihm Essen zu gehen und sprach da wie ein Wasserfall nur über die Familie, die schon erwachsenen Kinder.
Danach hatten wir noch zwei Besprechungstermine, in denen es wieder eher sachlich zuging, wenngleich ein gegenseitiges Verstehen, unterschwellig fast so etwas wie Freundschaft, zu spüren war. So erfuhr ich ganz nebenbei, dass er sich gegen eine Operation entschieden habe, weil sein Leben bei Gelingen „nur“ um zwei Jahre voller Schmerzen verlängert würde, bei Nichtgelingen allerdings bereits auf dem Operationstisch beendet sein könne. Und auch, dass er seiner Familie noch immer nichts gesagt habe. Niemand wisse etwas, nur ich.
In der Folge rief ich ihn zwei-drei Mal an, vorgeschobene Gründe, um vielleicht doch Neues über seinen Gesundheitszustand zu erfahren, auch, um ihm damit meine Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Durch seine freundliche Zurückhaltung ließ er mich wissen, dass ihm Reden wohl unangenehm war, möglicherweise war er auch nicht alleine im Raum.
Jetzt bin ich ihm wiederbegegnet. Dieses eine Jahr hat ihn auch optisch alt gemacht. Er ging gebeugt und verhalten, um eine hinzugekommene Gehbehinderung zu verbergen, hochgewachsen, wirkte er nun abgemagert, aus dem ausgezehrten Gesicht blickten seine Augen unendlich müde.
Er versuchte sich in der gewohnten Zuvorkommenheit, hatte aber Schwierigkeiten, verständlich zu artikulieren, und dass er Schmerzen litt, war ihm deutlich anzusehen.
Im Verabschieden wünschte ich ihm, er möge sich ... „bald besser?“ ... fühlen. Wir sahen uns an und schwiegen.
„Es tut mir so leid“, sagte ich hilflos.
Im Stehen griff er über den Schreibtisch nach meiner Hand, küsste sie und hielt sie fest. „Machen Sie’s gut, Kind.“
Als ich mich an der Tür umdrehte, stand er immer noch und schaute mir nach.
Manches Mal wünscht man sich das Wasser des Lebens.
noé/1992