66 - Lebenssplitter „Übungsobjekt"

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von Heide Nöchel (noé)

Bei einer dieser „Kaffeesitzungen“ kam auch etwas anderes zur Sprache. Zehnmal konnte es gutgehen – irgendwann, ohne Vorwarnung, wurde wieder im Vergangenheitstopf gewühlt.

Da war es wieder. Aus dem Lachen heraus, das aus dem Erzählen lustiger Begebenheiten entstanden war, kippte die Stimmung.

Gerade hatte ich gesagt: „Ja, Claudia war anders. Die hat sich schneller abgenabelt. Die hat einfach ihr Ding gemacht. Die wird immer auf die Füße fallen.“

Ihre Miene mir gegenüber vereiste in Zeitlupe und von diesem Ur-Eis wurde mein Magen spiegelgleich zur Walnuss gepresst.

„Deine Schwester hat sich nie was sagen lassen.“

„Du hast sie auch kaum geschlagen. Auch Frank nicht. Die beiden zusammen haben nicht so viel Dresche gekriegt wie ich alleine.“

Ein Grinsen überzog ihr Gesicht: „Bei dir musste ich ja auch noch üben.“ Ein schneller Seitenblick zu ihrem Mann.

„Ja, das hast du zur Perfektion getan. Weißt du noch das eine Mal, als du mich wieder mit dem Teppichklopfer verhauen hast? So feste, dass ich schreiend ins Treppenhaus geflüchtet bin? Und du bist hinter mir her und hast weiter auf mich eingedroschen? Immer auf die Waden und immer und immer. Ich hatte wochenlang das Muster auf den Waden als Blutergüsse.“

Ein beseligtes Strahlen erhellte ihr Gesicht, eine innere Freude glomm in ihren Augen auf, ich konnte ihre Reaktion – Jahrzehnte nach dem damals Geschehenen – nicht fassen.

Mit einem zufriedenen Unterton kicherte sie: „Wochenlang? Hihihihi! Wochenlang?! MONATELANG! Immer, wenn es kalt wurde, konnte man das Muster noch in Blau sehen.“ Dabei nickte sie – beglückt? Sogar meinem stumm am Kopfende des Tisches sitzenden Vater stellten sich die Haare auf, als er seine Frau so von der Seite betrachtete.

Dann kam der übliche triumphierende „Nachschlag“ von ihr: „Und? Hat es dir geschadet!?“

Zäh machte sich betroffene Stille breit, während sie aufmüpfig und von sich überzeugt von einem zum anderen sah.

In die Stille hinein sagte ich, bis ins Mark erschüttert, zu ihr: „Mama, es gibt Verletzungen, die kann man nicht mit den Augen sehen. Und die heilen nie.“

Mein Vater sah wieder auf seinen leeren Kuchenteller und es erstaunte mich, was ich da sah. Kaum wahrnehmbar zuerst, dann immer nachdrücklicher, ein stetes stummes Nicken von seiner Seite.
Das war der Moment, als ich selbst meine Mutter leicht verunsichert sah.

noé/2016

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