Anfang August, Sommerferienzeit. Tag um Tag scheint stickiger Waschküchendampf sich zum lösenden Orkan aufzustauen, dann passiert wieder nichts. Gegen Abend kommt etwas Wind auf. Von Ferne grollt es. Alle Fenster und Türen stehen offen. Drinnen in der ehemaligen Fabrik ist es heißer als auf dem Hof draußen.
Bei ihrer Umschau im Internet, in der Stunde, die sie vor uns meist schon hier ist, hat Frau Henkenhaf unseligerweise nur zwei mickrige Angebote aufspüren können. Herr Störk, mit seiner Hobby-Fotografie, die er uns als Lebensinhalt fortgeschrittener Junggesellentage dargestellt hat, könnte als Verkäufer im Fotofilialgeschäft angehen. Dieses wäre, nach fünf Monaten Teilnahme, Herrn Störks dritter Vorstellungstermin.
Herr Tassiq, der früher Stapler gefahren ist im Getränkehandel, könnte in den Vorort, sich da bei den Mineralbrunnen vorstellen. Temperamentlos, geleiert teilt Frau Henkenhaf ihrem Startrampen-Kreis mit, der Stellenmarkt befinde sich jetzt in seiner Sommerflaute. Nunmehr werde man sich der vom Kollegen Leiser schon angekündigten Herangehensweise über den verdeckten Arbeitsmarkt zuwenden.
„Wissen Sie noch, was mit dem verdecktem Arbeitsmarkt gemeint war?“
Schweigen wie im Grab. Frau Henkenhaf richtet die sinkenden, jedoch allzeit scharfen Blicke auf Herrn Bross,uns hier, den Berichterstatter. Ihr war, nachdem ihnen irgendwer hinterbracht hatte, dass Bross sich im Internet mit Denunziationen betätigt, nicht verborgen geblieben, dass eines von Bross' Kapiteln „Herr Leiser und der verdeckte Arbeitsmarkt“ betitelt ist.
„Ja, genau, also, wir machen das zwei Tage. Vorerst. Wir ziehen im Geist einen Kreis mit einem Kilometer Radius um unseren Wohnort und überlegen, in welchen Geschäften man unsere Fähigkeiten und Erfahrungen benötigt. Dann schlagen wir in den Gelben Seiten nach, rufen an und machen auf unser Angebot, dass wir für ein kostenloses Praktikum zur Verfügung stehen, Werbung.“
Jeder weiß inzwischen, dass sie zu Anfang mit unerbittlich staubtrockener Miene so knüppelharte Forderungen aufstellt, um sie nach und nach bald schon wieder runterzufahren, bis sie vollständig vergessen sind.
An diesem Tag - und am folgenden - wird einzig Rollifahrerin Schnurr eine oder zwei Firmen herauspicken, bei denen sie theoretisch, also bald, per Handy anfragen kann. Zuvor allerdings muss wieder ein brütend heißer, teilnehmerreduzierter und todlangweiliger Nachmittag überlebt werden. Daher diskutieren wir mit Frau Schnurr noch einmal all die Fragen durch, die sie bei jedem Silberstreif präventiv erfassen. Wird das dort denn barrierefrei sein? Die Behindertentoilette aber etwa im Obergeschoss? Wird der Anstieg auf der Zufahrtsstraße im Winter vereist sein? Und ist der Weg ab Haltestation nicht sowieso zu anstrengend für Frau Schnurr im Handbetrieb? Überhaupt, man kann doch nur mit den hiesigen S-Bahnen als Rollifahrer mit, in den Bussen aber nicht, beziehungsweise doch, durchaus, wie der allzeit wissende Herr Störk es weiß.
Herr Störk hat sich reingekniet in die Bewerbung fürs Fotogeschäft. Zahlen liegen ihm eher als Menschen. Jetzt erwartet Störk die erste telefonische Bewerbung von Frau Schnurr. „Du schaffst das, du bist taff!“ Beim ersten Versuch wird Frau Schnurr vertröstet, bei der zweiten Firma soll das im Home Office gehen, was natürlich ideal wäre für Rollifahrer. Sie möge die Unterlagen mal senden.
Frau Dajna, die muntere Kroatin, ist im Praktikum beim Call Center Pronto, wohin die Startrampe seit Jahren immer wieder mal Leute vermittelt, zuletzt unseren Herrn Weise, den redseligen Koch.
(Doch nein! Hier in Klammern müssen wir vorgreifen und paar Wochen springen: Frau Dajna ist überhaupt nie zu Pronto gegangen. Sie hat Urlaub in Kroatien bei ihrer Verwandtschaft gemacht, als wir sie dort noch vermuteten. Frau Henkenhaf wird geradezu aufleuchten und glitzern vor eisiger Wut, dann aber wiederum sanktionslos verbleiben. Sie hätte, wird Frau Dajna erklären, ihren Urlaub seit Wochen und Monaten abgesprochen gehabt und genau dann habe sie Pronto zum Praktikum bestellt. Das hätten die auch umdisponieren können, aber sie hätten es nicht getan, weil angeblich der Zuständige selbst im Urlaub war. Entweder Praktikum und Chance oder Urlaub und keine Chance, habe es geheißen. „Und dann hat sie die Chance sausen lassen“, giftet Frau Henkenhaf „und wer so was macht, der sagt mit anderen Worten jeglichem Arbeitgeber, dass mit ihm wohl nichts mehr zu holen ist. Der bestätigt dann das Hartz-IV-Klischee.“)
Herr Mauke hatte seinen Sommerurlaub aber vorher auch schon genehmigt bekommen, von dem er uns viele Wochen vorher verschmitzt geflüstert hatte, ihn werde die Henkenhaf bei gegebener Zeit dann wohl verschmerzen müssen. Auch bei Herrn Mauke hatte es die Gelegenheit zu einem Praktikum gegeben, da hatte er aber sowieso nicht ehrlich hingewollt. Maukes Sohn geht zur Schule und die haben alle Sommerferien. Im Osten hat Mauke einen alten Kumpel von der Zeit noch bei der Reichsbahn, der nimmt sie mit auf der Lok.
Indem das irgendwie zuerst dieser Mauke geschafft hatte, der Henkenhaf die kategorisch abgestrittene Möglichkeit von Ferien unter ihre eiserne Weste zu jubeln, anschließend Frau Dajna die Dalmatienferien sich kaperte, musste man am Ende bei Frau Wergraff noch ein Einsehen haben. Frau Wergraff hat eine Freundin, welche in Altdorf bei Nürnberg ein geräumiges Haus besitzt. Mit ihr hatte Frau Wergraff sich einst so gut verstanden, dass ihr jetzt klar geworden ist, dass sie in Reuenthal sowieso immer schon eine Außenseiterin war, in Altdorf, obwohl von dort mitnichten stammend, eigentlich ihre Wurzeln noch stecken. Frau Wergraff denkt es sich so, erst mal dieser Urlaub mit ihrer Tochter in Altdorf. Da nimmt sie die Unterlagen mit und verteilt von Lebensmittelmarkt zu Lebensmittelmarkt das bei der Startrampe zusammengestellte Qualifikationenprofil. Später wird sie bei ihrer Freundin einziehen und mit ihr zusammen wohnen. Es ist folglich existenziell, wenn sie den Sommerurlaub jetzt bekommt.
Ach und der grau bezopfte Asterix und Agarophobiker Schmolzacher, der soll dann wohl hinten runter fallen, wenn sie weggeht. Schmolzacher, zwischen den vielen Schlucken nicht kalorienreduzierter Marken-Cola, die er gleich neben sich am Stuhlkreis stehen hat, hatte irgendwann manifest und direkt platt begonnen, Frau Wergraff anzubaggern. Die gut zehn Jahre Ältere könne seine Domina sein, er neige etwas dem SM zu. „Du bist einfach süß“, hatte er vor aller Ohren ausgerufen. Und insofern dann auch Erfolg gehabt, als sich das neue Paar, Schmolzacher und Wergraff, in jeder freien Minute von den Startrampe-Zöglingen absetzte und drüben am Rand, noch in Sichtweite, zärtlich sich begriffelte und beschnuckte.
Noch einer ist weg wegen Sommer, der blonde Herr Hartmann. Der hat zwei Söhne, der ältere sei schon zwölf, aber gerade dieser wäre nicht voll entwickelt und bedürfe des Vaters in solcher Zeit ganz arg. Hartmann spielt jetzt wieder Fußball und geht mit seinen Kindern aufs Volksfest. „Die werden das im Herbst natürlich alles reinarbeiten“, beteuert Frau Henkenhaf. Innerlich bezweifeln wir es massiv, aber da wir selbst im Herbst ja schon entlassen sein werden, geht es uns nichts mehr an.
Regelmäßig dabei, aber aufreizend faul, Gähnen und Fußballergebnisse checken, ist der knäbische Herr Lagarde. Hatte dieser Lagarde nicht irgendwann was mit IT zu tun, wäre denn hier nicht etwa Pronto? Lagarde: „Ich war doch gerade erst zur Erprobung im Hospiz. Da kommen die Ergebnisse bald.“ Herr Lagarde glaubt vom ersten Tag an, seitdem er in der Startrampe ist, dass er schon in ganz wenigen Tagen wieder als Pflegehelfer Geld verdienen wird. Aber sie nehmen ihn dann nie, nachdem er persönlich dort war.
Auf schlingerndem Gesprächskurs hat Frau Henkenhaf in teilnehmerreduzierten Nachmittagsrunden bei Herrn Lagarde eine Bereitschaft zu eröffnen versucht, sich mit den eigenen speziellen Vermittlungshemmnissen mal zu befassen. Es sei wohl jetzt doch besser, wenn das was würde, bei dem man nicht viel Verantwortung für andere Menschen tragen müsse. „Das hängt auch mit Ihrer Behinderung zusammen.“ Sie piesackt ihn mehrmals vor versammelter Mannschaft und das ist der klartexte Satz, der ihr entweicht. Für Herrn Lagarde ist der Anlass seines Schwerbehindertenstatus aber dermaßen tabu, dass er jetzt bockig behauptet, er wäre doch nicht schwerbehindert und das auch noch nie gewesen. Das war ein bürokratischer Fehler vom Jobcenter, dass man ihn der falschen Bearbeiterin zugeschanzt hätte. Natürlich glaubt kein einziger in dieser Runde, dass es so etwas geben könnte, aber die Angelegenheit setzt Herrn Lagarde derart zu, dass er in den Pausen, im Hof draußen, wenn keiner von den Startrampe-Mitarbeitern zuhört, unter Tränen fast, wieder und wieder versichert, eine Unverschämtheit wäre es, ihn als Behinderten abzustempeln. Herr Störk blinzelt uns auf dem Nachhauseweg zu, Behinderung müsse ja nicht notwendigerweise was Organisches sein. Herr Störk muss es wissen.
Was ist bloß los mit dem Stuhlkreis?
Herr Tassiq laufend außer Haus, jeweils auf Stellensuche. Frau Dajna bei Pronto oder gleich am Mittelmeer. Herr Hartmann, Herr Mauke, Frau Wergraff, in den Schulferien mit ihren Kindern. Herr Schmolzacher ebenso Urlaub, irgendwie, wir wissen nicht, vielleicht doch eher wieder krankgeschrieben. Herr Störk arbeitet noch immer an der Fotogeschäft-Bewerbung. Frau Schnurr? Und erst da vermissen wir das Schrillen ihrer Stimme. („Frau Henkenhaf, Frau Henkenhaf, schauen Sie!“) Herr Störk dreht sich um: „Susanne und wie? Hast du was?“
Ja, Frau Schnurr hat was. Nämlich hat Frau Henkenhaf ihr einen Weg eröffnet, wie man auch noch raus könnte aus der Misere. Das würde aber ihren Freund auch betreffen, der müsste das wollen. Bis jetzt hat die arme Frau Schnurr sich nicht getraut, das ungeheuerliche Vorhaben, über dessen Natur wir keine Hinweise haben und auch keine bekommen werden, dem Lebenspartner vorzutragen. Das nagt am Herzen.
Ganz vergessen haben wir den stillen Syrer, Herrn Sidi. Der war mal wieder, von Frau Henkenhaf gnädig ignoriert, zwischendurch ein wenig eingenickt, auf die Tastatur des PCs gesackt, mit dem er den Nachmittag über nach Stellenangeboten fischen sollte.
Noch einmal sind zwei Tage Hitze um. Mehr Stillstand vor dem Schuss ins All.