25 – Lebenssplitter "Metin und die Zöllner"

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von Heide Nöchel (noé)

Dieselbe grüne Insel auf der Deichkrone hat einmal den heldenhaften Einsatz meiner kleinen Schwester mitangesehen, mein „Leben zu verteidigen“. Das war schon heroenhaft für ihr kleines Menschenverständnis. Ich fand das damals nicht so belustigend, muss allerdings rückblickend gerührt schmunzeln.

Es gab da mal jemanden, dem ich diese Bank-Nische innerhalb der kuscheligen Bepflanzung auch gerne gezeigt hatte, allerdings war da von meiner Seite schon etwas mehr forschender Ehrgeiz vorhanden als vorher bei „Leopold“. Dieser Jemand war größer gewachsen, irgendwie eleganter, kultivierter in seinem Auftreten und von ganz anderer Art als Leopold, hieß Metin und war – ja, haha! – Türke. (Das kam jetzt gut, nach dem Österreicher ...).

Er war Student und in meinen Augen schon sehr attraktiv. Selbst sein schwarzer Schnäuzer störte mich nicht. Auch nicht beim Küssen, das wir bald ausprobierten. Auf dieser Bank, halbwegs versteckt in dieser grünen Bepflanzungsinsel, und unentdeckt, abgesehen von den flanierenden Rentnern, die sich aber hanseatisch „außen vor“ hielten und auch nicht neugierig aus den Augenwinkeln linsten.

In meiner Eigenschaft als große Schwester hatte ich meine kleine Schwester dabei, eine Konstellation, die Metin sicher bekannt vorgekommen sein musste und ihn eher positiv mir gegenüber eingenommen haben konnte.

Wie alt war sie damals? Vier? Oder doch erst drei? Oder sowas. Sie spielte um uns herum, hüpfte hierhin, dort entlang, die Wege rund um „unsere“ Banknische herum – und entdeckte wohl plötzlich, wie Metin seine Lippen auf meine senkte. Und genau so plötzlich hing ihm ein Derwisch auf dem Rücken, geballte Lebenskraft mit geballten Fäusten, die wahllos auf den Verdutzten einschlugen, mögliche Gefahren für den eigenen Leib, das eigene kleine Leben nicht fürchtend. Sie schlug blindlings auf ihn ein und sagte – SAGTE, nicht schrie – mit einem erstaunlich drohenden Kehlen-Knurren: „Nicht beißen! Nicht beißen!“

Nach dem ersten Schrecken und der ersten handlungsunfähig machenden Verdutztheit, pflückten wir sie von ihm ab, beruhigten sie und mussten dann doch erstmal lachen. Wir haben uns danach nicht mehr wiedergetroffen, Metin und ich. Aber nachdem ich Unbedarfte mich im Laufe der kommenden Jahre doch so langsam besser informierte über Zusammenhänge politischer und religiöser Art und auch über Mentalitäten, neige ich doch zu der Auffassung, dass Schutzengel manchmal auch die Form von kleinen Schwestern annehmen können.

Manchmal tragen sie auch Uniform. Zöllneruniform.

Ich saß in einem Käfer neben einem „reifen“ Mann – ich weiß nicht mal mehr, wo und wie ich ihn kennengelernt hatte, in der Milchbar? Vermutlich, ich ging ja sonst nie weg - und suchte menschliche Zuwendung. Ich fand ihn nett, er war sehr höflich, schien an meiner Person interessiert und hatte mich freundlich auf eine Ausflugsfahrt in die Umgebung eingeladen. Ich dachte, er bliebe so freundlich, nett und zugewandt, doch dem war nicht so. Er veränderte sich schon während der Fahrt und wurde – wie man so sagt - „übergriffig“. Solange er fuhr, konnte ich das ja noch abwehren, aber dann hielt er vor den Toren der Stadt in einsamer Gegend und brachte beide Hände zum Einsatz.

Mir gelang es, die Beifahrertür zu öffnen und – tatsächlich – zu flüchten. Nur: Inzwischen war es dunkeldämmerig, wir waren vor den Toren der Stadt in einer mir fremden Gegend ohne Häuser in der Nähe. Egal! Was mir wichtig schien: Distanz zwischen ihn und mich zu bringen, der Rest würde sich finden.

Ein einziges Mal habe ich bei Schulsportfesten eine Urkunde bekommen bei einem Hundertmeterlauf. Damals bin ich so gerannt, dass ich die mir anschließend reportierten Anfeuerungsrufe der Mitschüler gehörtechnisch nicht erfasst hatte, ich lief wie in einem Tunnel. Genau so ging es mir jetzt. Ich hatte alles ausgeblendet, nur weg! Und wie gab ich Fersengeld! Immer diese laufbandähnlichen Geschichten im Kopf von „Mädchenleiche im Unterholz entdeckt“, „halbverweste Frauenleiche gefunden“ und ähnliches. Ich lief wirklich um mein Leben ...

Aber dann drang doch ein Geräusch in mein Bewusstsein: Ein Automotor auf Schleichfahrt. Er pirschte sich ohne Licht von hinten an mich heran! Wohin sollte ich ausweichen, der Weg verlief auf der Krone eines deichähnlichen Walles. Ich legte noch einen Zahn zu und schrie, schrie um Hilfe in die Dunkelheit.

Und da tat sich tatsächlich eine Tür auf. (… und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her ...). Rechts vorne war ein türöffnungsförmiges Licht zu sehen und mitten darin ein menschlicher Umriss. Ich schrie wieder aus Leibeskräften und hörte den VW schon direkt hinter mir. Da trat eine zweite Person in das Licht und beide kamen mir entgegen.

Es waren Zöllner, die mich sehr väterlich-besorgt in Empfang nahmen und hineingeleiteten. Wir hörten einen Motor im Rückwartsgang aufheulen und nachdem die insgesamt drei Zöllner einen ersten knappen Überblick bekommen hatten durch meine verheulte, atemlose, geschockte Erklärung, machten sich zwei von ihnen in unterschiedlichen Richtungen gleich auf die Suche und der dritte hängte sich ans Telefon, um Kollegen anderswo an der Strecke zu informieren.

Bei der Suche kam nichts heraus. Warum weder die Polizei eingeschaltet wurde noch meine Eltern informiert, kann ich nicht mehr sagen, es ist mir einfach nicht erinnerlich. Wahrscheinlich jedoch hatte ich darum gebeten, weil ich mir so richtig Dresche von meiner Mutter erwartete, denn Schuld hatte ja von vornherein immer ich, niemals jemand anderer. Es wurde immer so gedreht. Also war es auch ganz alleine meine Schuld, dass ich beinahe vergewaltigt worden wäre. Wenn nicht mehr. Wahrscheinlich wäre es auch meine Schuld gewesen, wenn ich aus dieser Szene nicht mehr lebend herausgekommen wäre. „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“ – selber schuld, Pech gehabt. Ich weiß nur, dass mich ein Taxi bis vor die Haustür fuhr, was diesen Tag beendete.
Das Schreiben dieser Geschichte ist das erste Mal, dass auch „andere Leute“ von dem Geschehen erfahren.

Ich könnte mir denken, dass mein Faible für Uniformträger vielleicht mit diesem – ja – liebevollen, respektvollen, fürsorglichen Umgang mit mir und meinen Wünschen zu tun hat. Sowas habe ich ja gewiss nicht oft erfahren in meinem Leben, zumeist wurde ich "verwaltet".

noé/2014

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