Fortsetzung vom Sonntag, 20.11.; Im Dickicht der Zeichen; Nora Meranes erster Fall; ein Krimi

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Ich lag im Bett und wälzte mich von einer Seite zur anderen, ohne in den Schlaf zu finden, obwohl ich mich hundemüde fühlte.
Das lag allerdings weder an Marcs Matratze, die hervorragend war, noch an der fremden Umgebung, sondern einzig und allein an Brenda, deren Tod mehr und mehr Rätsel aufgab - sofern es sich denn um die Wahrheit gehandelt hatte, mit der Marc vor gut vier Stunden endlich herausgerückt war.

Wahrheit, dachte ich, wer kennt sie schon? Oberflächlich gesehen, war sie leicht herauszufinden, aber was sich hinter den nackten Tatsachen verbarg, können weder gute Kriminologen noch Psychiater so ohne Weiteres durchschauen.
Da gab es doch dieses Sprichwort: 'Jeder Mensch hat ein Rätsel, das erst von der Nachwelt gelöst wird.' - 'Sofern sich jemand dafür interessiert', hätte ich hinzugefügt. Die meisten Hinterbliebenen von Normalsterblichen sind doch lediglich auf eine mögliche Erbschaft aus.
„Was, Tante Hilde hatte nicht mal ein Sparkonto? Wo hat die bloß ihre ganze Rente gelassen?“

Ja, ich war mal wieder mit der Wahrheit beschäftigt, die bei Vater so hoch im Kurs gestanden hatte.
Und wie erleichtert zeigen sich Richter und Staatsanwälte, sobald Angeklagte und Beschuldigte den Mund aufmachen, um - endlich - ihre Taten einzugestehen und nichts als die Wahrheit zu berichten wissen. Ich denke dann immer: Kennen diese Menschen eigentlich ihre Beweggründe, jene Gründe, die für die Delikte, die sie begangen hatten, ausschlaggebend waren? Wissen sie sich selber einzuschätzen? Oder sind sie nur froh, wenn das Gerichtstheater endlich vorüber ist und Ruhe einkehrt?

Die meisten würden viel zu viel reden, sobald sie sich einmal dazu entschlossen hätten, hatte 'Lassie' mir anvertraut. - Und im Handumdrehen säßen sie im Schlamassel, in einem Scherbenhaufen, der nicht mehr zu kitten sei. Die Gesetzeshüter packten die Gelegenheit beim Schopfe, drehten ihnen bisweilen die Worte im Munde herum, so dass sie ihren eigentlichen Sinn verlören, und schon sei man überführt. Er habe das oft genug miterlebt. Er gebe nichts darauf, aus jemandem ein Geständnis herauszupressen.
Deshalb säßen auch so viele arme Schweine im Knast, während die ganz Schlauen, die Gerissenen und solche, die sich einen cleveren Anwalt leisten konnten, oft mit geringeren Strafen davonkämen. Er sei dafür, dass man in Schulen das Strafgesetzbuch und das BGB durchnehme.

„Ach“, hatte 'Lassie' am Ende unserer Unterhaltung gestöhnt und seine Hand über die müden Augen gelegt, „was rede ich denn da schon wieder für einen Unsinn, Nora. Selbst das wäre vermutlich für die Katz'. Die, die es nötig hätten, hören eh nicht zu - weil sie das Zuhören nicht gelernt haben.
Die meisten Eltern sind heutzutage viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und am Abend oft viel zu kaputt für ernste Gespräche oder bereits alkoholisiert. Respektlosigkeit und Dummheit greifen um sich wie eine Seuche, und wir, die Gesellschaft, tragen die Schuld daran.“

Ich hörte Stefan gerne zu. Er hatte meistens recht mit dem, was er sagte. Seine Gradlinigkeit und verständnisvolle Gesinnung und nicht zuletzt die jahrzehntelange Erfahrung im Polizeidienst hatten ihn zu dem gemacht, der er war: ein hervorragender Bulle.

Es war mittlerweile zwei Uhr. Ich hatte meine Nachtlektüre auf den Bettvorleger fallen lassen: einen Krimi von Karin Fossum: „Der Mord an Harriet Krohn“. Sehr engmaschig gestrickt und überaus spannend. Ich wusste bereits auf Seite 10, dass ich dieses Buch zu Ende lesen würde, was bei den meisten Büchern, die ich in letzter Zeit angefangen hatte, selten der Fall gewesen war. Meistens hingen mir schon nach wenigen Seiten die tausend Einzelheiten zum Hals heraus, die, breitgetreten bis zum 'geht nicht mehr', dem Werk lediglich Volumen verschaffen sollten, um den Preis des Buches in die Höhe treiben.

Ich stand auf und ging ins Badezimmer: Draußen war es stockdunkel. Aus dem Spiegel blickte mir ein Gespenst entgegen. Ich war leichenblass und sah total übermüdet aus. Jensen fiel mir plötzlich ein, der ebenfalls den Eindruck erweckte, als bekäme er nicht genügend Schlaf, als nehme ihn der Mord an Brenda unverhältnismäßig heftig mit.

Marc hatte mir erzählt, dass Jensen ein typischer Einzelgänger sei, der sich von keinem seiner Kollegen duzen lasse. Niemand wisse so recht über ihn Bescheid. Marc glaubte, dass Jensen ihn nicht leiden könne, und wunderte sich, dass dieser nicht die geringsten Anstalten machte, sich auf eine andere Dienststelle versetzen zu lassen.
Irgendetwas hielte Jensen in Wasserburg. Aber was?
Marc hatte seine Stirn gerunzelt, wie früher, als junger Bursche, wenn unser Mathelehrer ihn an die Tafel rief, und ich hatte in mich hineingelächelt.

Woran ich denke, hatte Marc mich gefragt. An meinen Freund oder meinen Lebensgefährten?

Weder - noch, hatte ich geantwortet und Marc hatte erleichtert aufgeatmet.

Mir war Jensen auch nicht sonderlich sympathisch; aber es gab weitaus üblere Kollegen. Ich hielt Jensen für keinen schlechten Menschen, fragte mich jedoch, ob er mehr über Brendas Tod und ihre Beziehung zu Marc wusste, die zweifellos bestanden hatte – ich konnte lediglich noch nicht einschätzen, welcher Art sie gewesen war.

Mittlerweile sah ich überall um mich herum Zeichen - Zeichen über Zeichen, die ich 'lediglich' einleuchtend deuten musste; aber gleichzeitig war mir zumute, als befänden sie sich in einem Dickicht voller Dornen, um es kurz zu machen: Ich sah den Apfelgarten vor lauter Bäumen nicht.

Der Apfelgarten! - Er trieb mich in Marcs Küche. Ich stellte mich vors Fenster und schaute in den Finstergang hinab, der, kaum erhellt, unter einer blassen Mondsichel lag. Die Bäume schrien zu mir herauf: „Hier, im Dickicht, Nora, liegt der Hund begraben - Komm runter, rüttel und schüttel uns – zur Belohnung präsentieren wir dir den Mörder.“ -

Klarer Fall von Frau Holle dachte ich. Ein Märchen, das ich als Kind eindeutig zu oft gelesen hatte. Der Mangel an Schlaf machte sich auf groteske Weise bemerkbar.

Marc hatte mir gebeichtet, dass er noch vor wenigen Wochen mit Brenda telefoniert habe; dann sei der Kontakt plötzlich abgerissen; er habe geglaubt, es ginge ihr wieder besser, habe gehofft, dass sie endlich an einen netten Mann geraten sei. Sie sehne sich danach, eine Familie zu gründen, habe Brenda ihm erzählt.

Nachdem Marc seine langjährige Freundin Lena während besagter Bullenparty an Frank verloren hatte – diese Beziehung war meines Wissens vor einem Jahr gescheitert; denn Frank war zwischenzeitlich mit einer jungen Engländerin verheiratet – , habe er, Marc, sich angewöhnt, seine freie Zeit im 'Break Even' zu verbringen, seiner Stammkneipe. Dort habe eines Tages Brenda gesessen, auf einem der roten Barhocker vor der Theke, und ein paar Tränen in ihren Gin vergossen.
Marc habe sie gefragt, ob er ihr helfen könne und so seien sie ins Gespräch gekommen und hätten sich hin und wieder dort getroffen.

Ich hatte auf die Schnelle ein paar Kleidungsstücke zusammengerafft, in eine Sporttasche geworfen und saß nach wenigen Minuten wieder neben Marc im Auto, der vor der Haustür geparkt und auf mich gewartet hatte. Ich konnte es kaum erwarten, Brendas Wohnung aufzusuchen, war mir so gut wie sicher, dass sie dort ermordet worden war. Aber von wem? Und was hatte Marc mit der Sache zu tun? Möglicherweise lag die Antwort irgendwo in Brendas kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, die Marc versiegelt hatte.

„Hat Brenda sich in dich verliebt, Marc?“, hatte ich ihn gefragt, als wir auf dem Weg nach Bendingerode waren.

Marc hatte mit den Schultern gezuckt und stur geradeaus gesehen.

Wir hüllten uns während der restlichen Fahrt in Schweigen. Mir gingen Dinge durch den Kopf, die ich eigentlich aufschreiben wollte, aber mein Notizbuch lag ganz unten in der Sporttasche, die Marc in den Kofferraum gestellt hatte.

Bevor ich aus dem Wagen stieg, sagte Marc: „Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich eine Frau in einen Mann verliebt, der zwei Köpfe kleiner ist als sie.“

„Als ob das ausschlaggebend wäre“, hatte ich erwidert. „Die Loren und Carlo Ponti waren auch ein glückliches Paar.“

„Die gute Brenda war aber nicht mein Typ, Nora. Weshalb stellst du mir eigentlich so merkwürdige Fragen. Ich habe Brenda nicht ermordert.“

„Aber du weißt schon, dass ich dir diese Fragen stellen muss? Zumal Brenda Vertrauen zu dir hatte, anderenfalls wärst du nicht so gut über ihr Leben informiert. Vielleicht warst du sogar der letzte, der sie lebend gesehen hat.“

„Lass uns ins Haus gehen, Nora“, sagte Marc, ohne auf meine letzten Worte einzugehen, und reichte mir wortlos den Schutzoverall, den er für mich besorgt hatte.

Fortsetzung am Donnerstag, den 24.11.2016, Thanksgiving (USA)

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