Ich hatte mir Bratkartoffeln mit Matjes bestellt, ein Gericht, das in kleinen Lokalen besonders gut schmeckte, wie ich im Laufe der Jahre herausgefunden zu haben glaubte, und war, trotz der großen Sorge um Sally, gespannt auf den Geschmack der zarten, rosa glänzenden Filets, die der Gastwirt mir gezeigt hatte; aber als der Matjesteller vor mir stand, konnte ich keinen einzigen Bissen herunterbringen.
Dann kam auch schon Georg zurück - endlich; sein Fortbleiben war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen.
„Schnell, Cordula“, rief er mir zu, „wir müssen zum Euroindustriepark. Deine Tochter soll dort in einer Erotic-Bar arbeiten.“
„Mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit nicht freiwillig“, fügte er hinzu, als er sah, dass ich zusammenzuckte.
„Ist das weit? Wie kommen wir dorthin? Ich habe meine Handtasche im Hotel gelassen, trage nicht einen einzigen Cent bei mir“, stammelte ich aufgeregt. „Vielleicht sollte ich ich erst mal ins Hotel zurück ...“
„Das Rotlichtviertel 'Euroindustriepark' liegt im Norden Münchens“, unterbrach Georg mein aufgeregtes Gestotter. „Wir fahren mit dem Taxi. Ich kenne hier fast alle Droschkenkutscher.“
Georg lief mit mir zum Taxistand am Hauptbahnhof. Er hatte seine Schuhe gewechselt, trug plötzlich schwarz-weiße Sneaker. Sein schwarzes Minikleid, das etwa eine Handbreit über dem Knie endete,
hatte an der rechten Seite einen zirka acht Zentimeter langen Schlitz. Georg lief wie ein Leichtathlet; ich musste mir Mühe geben, mit ihm Schritt halten zu können.
„Zum 'Wolf im Schafspelz', Percy“, rief er dem jungen Taxifahrer zu, der ihn mit den Worten 'Hallo, Georgi, wohin so eilig?' begrüsst hatte.
„So nennen wir diese Gegend, weil dort zwischen biederem Handel und Commerz unglaublich viele erotische Etablissements verborgen liegen, Cordula, gar nicht so leicht aufzustöbern, diese Locations - Häuser, die gewissermaßen verschleiert sind, ähnlich den 'tugendhaften' arabischen Frauen, die unter ihren 'Hidschabs' oder schwarzen Kutten enge Jeans und High Heels tragen und mit sündhaft teuren Handtaschen herumschlenkern; aber wehe, du zeigst denen als Touristin deine Schulter. Dann flippen die in Dubai sofort aus.“
„Zeig denen doch deine k a l t e Schulter, Georgi“, warf Percy ein.
„Sowieso“, sagte Georg. „Mich würden die dort eh' verhaften, nur weil ich mich gerne chic anziehe. Das muss man sich mal vorstellen. Was hat das noch mit Menschenrechten zu tun? Hältst du bitte am 'Leierkasten', Percy?“
„Aber sicher doch; wir sind gleich da!“
„Leierkasten? Ist das ein Musikalienhandel?“, fragte ich.
Georg und Percy wollten sich ausschütten vor Lachen.
„Na ja, wie man 's nimmt“, griente Georg. „'Der Leierkasten' ist Münchens größtes und ältestes Bordell für Hinz und Kunz, sieht von außen aus wie ein Finanzamt.“
„Oder wie ein Polizeipräsidium“, sagte Percy. „Wir sind da.“
„Dort ist die Ingolstädter Straße, Schätzchen“, klärte Georg mich auf und zeigte auf eine gut beleuchtete, breite Geschäftspassage. „Unsere sündige Meile, 'der Wolf im Schafspelz'; zuerst wird tüchtig eingekauft, und danach gibt es als Belohnung für den Stress das Sahnhäubchen: eine schöne Frau zu einem möglichst günstigen Preis, sofern überhaupt noch Moneten vom Einkauf übrig geblieben sind.“ - Was bin ich dir schuldig, Percy?“
Percy winkte ab. „Du hast mir letztes Mal, als ich dich von Ludwigsvorstadt nach Schwabing gefahren habe, ein derart fürstliches Trinkgeld überreicht, dass ich dich dafür von München nach Hamburg kutschiert hätte.“
„Übertreib' nicht so maßlos, Percy“, sagte Georg. „Cordula denkt sonst, dass ich im Nebenberuf Banken überfalle.“
„Sie müssen wissen, dass Georg hier in München ein absoluter Revuestar ist, junge Frau“, sagte Percy und drehte sich zu mir um. Er war noch sehr jung, höchstens Mitte Zwanzig.
„Georgi spielt auch öfter in Fernsehfilmen mit“, fügte er hinzu.
„Klitzekleine Nebenrollen“, sagte Georg. „Du würdest mich vermutlich gar nicht wiedererkennen, wenn du solch einen Film einmal zufällig sehen solltest, Cordula. - Bis zum nächsten Mal, Percy. Halt die Ohren steif.“
Wir stiegen aus dem Taxi und liefen die Straße hinunter. Georg zog mich plötzlich in einen Hauseingang und drückte auf ein unauffälliges Klingelschild. 'Bar Yvonne' stand mit schwarzen Buchstaben auf grauem Plastikuntergrund. Der Summer ging, Georg stieß die Haustür auf und zog mich in einen schummrigen, lang gestreckten Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Am Ende des schmalen Korridors befand sich endlich die Tür, hinter der meine Tochter einem Erotic-Geschäft nachgehen sollte. Georg hatte mir noch immer nicht verraten, um welche Art von Geschäft es sich dabei handelte.
Auf dem Türschild stand 'Erotic bei Yvonne – Erlebnisse, von denen Sie zehren können.' Ich hätte am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht, aber Georg hatte bereits auf den Klingelknopf gedrückt.
„Das dauert immer etwas“, sagte Georg. „Yvonne hat alle Hände voll zu tun, und die Mädchen hinter der Bar sitzen manchmal auf ihren Ohren. Es ist auch immer ziemlich laut dort drin. Hört man hier draußen gar nicht. Die Tür ist extrem gut gepolstert.“
Nach dem dritten Läuten wurde endlich die Tür geöffnet. Auf der Schwelle stand eine zirka vierzigjährige Frau mit dunklen schwarzen Haaren und grellem Make-up. Ohne die Schminke hätte sie vermutlich zehn Jahre jünger und viel hübscher ausgesehen.
„Guten Abend, Yvonne“, sagte Georg und schob mich nach vorn. „Dies hier ist meine Freundin Cordula. Sie sucht ihre Tochter, die in deinem Puff arbeiten soll. Ich weiß das aus sicherer Quelle. Mach bitte keine Schwierigkeiten und lass uns rein. Wir wollen uns nur mal hier umschauen. Dauert auch nicht lange.“
Fortsetzung am Dienstag, den 27. November 2017